Es war eine Podiumsdiskussion über Feminismus, die Alicia Baier vor acht Jahren zu ihrem Lebensthema brachte. Sie war damals 24 und Medizinstudentin im achten Semester, doch mit Abtreibungen hatte sie sich noch nie beschäftigt.
Bei dem Talk mit einer niederländischen Ärztin und Pro-Choice-Aktivistin hörte sie nun erstmals, wie häufig solche Eingriffe in Deutschland sind: Pro Jahr gibt es etwa genauso viele Schwangerschaftsabbrüche wie Blinddarm-Operationen. Doch im Medizinstudium werden sie kaum gelehrt. Auch nicht an der Berliner Charité, wo Baier studierte: "In einem Seminar zu Pränataldiagnostik ging es mal am Rande um rechtliche Aspekte eines Spätabbruchs", sagt sie. "Ansonsten: nichts. Abbrüche bis zur zwölften Woche waren nie Thema, dabei machen die 96 Prozent aller Abtreibungen aus."
Baier gründete die Gruppe "Medical Students for Choice Berlin"
Bei der Veranstaltung erfuhr Baier von der US-Initiative "Medical Students for Choice", die sich seit 1993 für den besseren Zugang zu Abtreibungen und die intensivere Behandlung des Themas in Studium und Facharztausbildung einsetzt. Wenige Monate später gründete sie deren ersten deutschen Ableger: die "Medical Students for Choice Berlin". Bis heute organisiert die Gruppe Vorträge, Filmabende und Vernetzungstreffen – und die sogenannten "Papaya-Workshops". Hier lernen Studierende von Gynäkolog:innen, wie ein Abbruch mittels Absaugung funktioniert: Sie führen ein Röhrchen ins schmale Ende einer Papaya ein, setzen eine Vakuumpumpe an und saugen die Fruchtkerne ab.
Drei Jahre später, Baier hatte ihr Studium inzwischen abgeschlossen und die Facharztausbildung zur Gynäkologin begonnen, stellte sie mit Kolleg:innen eine weitere Initiative auf die Beine: die "Doctors for Choice". Auch sie klären auf, vernetzen, bieten Fortbildungen an – und konnten etwa durchsetzen, dass die Inhalte einer wichtigen Lernplattform geändert wurden: Bis vor Kurzem sei es dort beim Thema Abtreibung statt um verschiedene Methoden und deren Vor- und Nachteile vor allem um Komplikationen gegangen, sagt Baier. Zudem seien von Abtreibungsgegner:innen geprägte Begriffe verwendet worden statt der medizinisch korrekten Termini – etwa "ungeborenes Leben" statt "Embryo". Das sei nun korrigiert worden.
Der Abbruch soll fester Bestandteil der gynäkologischen Ausbildung werden
Beide Gruppen fordern die Abschaffung von Paragraf 218 des Strafgesetzbuchs, der Abtreibungen unter Strafe stellt, und eine bessere Versorgung von Schwangeren, die einen solchen Eingriff planen. Sie wollen, dass alle Medizinstudent:innen lernen, welche Methoden des Abbruchs es gibt, wie sie ablaufen, wie man Schwangere wertneutral berät. Der Abbruch soll zudem fester Bestandteil der gynäkologischen Facharztausbildung werden. Auch heute noch, sagt Baier, könne man nämlich an vielen Kliniken Fachärztin für Gynäkologie werden, "ohne je einen Schwangerschaftsabbruch gesehen oder mit einer betroffenen Frau gesprochen zu haben".
Sie selbst hat für ein Forschungsprojekt Medizinstudierende nach ihren Einstellungen zum Schwangerschaftsabbruch befragt und festgestellt, dass die sich den Eingriff oft größer und gefährlicher vorstellen, als er ist. "Sie dachten an eine große Bauchoperation. Das sind klassische Mythen, die von Abtreibungsgegner:innen vermittelt werden."
Viele hätten auch die Beratungspflicht befürwortet, damit die Frau vor den vermeintlich großen Risiken des Abbruchs, etwa Unfruchtbarkeit oder Traumatisierung, gewarnt werden könne – "dabei steht im Gesetz, dass die Pflichtberatung dem Schutz des Embryos dient, es geht da gar nicht um das Wohl der Frau". Tatsächlich, sagt Baier, seien Komplikationen selten. Die Alternative – eine ungewollte Schwangerschaft auszutragen und ein Kind zu gebären – sei körperlich und psychisch viel gefährlicher.
Hoffnung für Frauen, die abtreiben
Baier arbeitet heute selbst als Assistenzärztin für Gynäkologie in Berlin – und hofft, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht ewig ihr Lebensthema bleiben: "Ich freue mich, wenn das Problem irgendwann gelöst ist und ich mich auch mal mit anderem beschäftigen kann."
Die Chance dafür ist zuletzt gestiegen: Seit März prüfen Expert:innen im Auftrag der Ampel-Regierung, wie man die Gesetze in Deutschland liberalisieren könnte. Auch die Versorgung soll verbessert werden. Schwangerschaftsabbrüche sollen Teil der ärztlichen Aus- und Weiterbildung werden. Baier und ihre Mitstreiter:innen haben mit ihrer Arbeit dazu beigetragen.