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Ein Stadtentwicklungsprojekt im Herzen Istanbuls war der Auslöser für Proteste, die inzwischen die ganze Türkei erfasst haben. Vergangene Woche hatten sich Demonstranten in einem Park versammelt, der einem Einkaufszentrum weichen soll. Die Polizei rückte mit Wasserwerfern und Tränengas an. Das brutale Vorgehen sorgte für Entsetzen, landesweit kam es laut der Zeitung "Hürriyet" zu mehr als 90 Demonstrationen. Nach Informationen des Innenministeriums wurden dabei mehr als 1.000 Menschen verletzt, mehr als 1.700 Menschen seien festgenommen und größtenteils nach kurzer Zeit wieder freigelassen worden.
Per Facebook, Twitter und in Blogs berichten Demonstranten über die gewaltsamen Polizeieinsätze, aber auch über die große Solidarität, die ihnen entgegenschlägt. Mit ihrem auf Englisch verfassten Blogeintrag über die Proteste in Istanbul sorgte die Autorin, Bloggerin und Yogalehrer Defne Suman für Aufmerksamkeit. Mit ihrer Einverständnis veröffentlichen wir auf BRIGITTE.de eine deutsche Übersetzung ihres sehr persönlichen Berichts:
Was in Istanbul passiert - ein Blogeintrag von Defne Suman
"An meine Freunde außerhalb der Türkei: Mit diesen Zeilen möchte ich mitteilen, was seit einigen Tagen in Istanbul passiert. Ich schreibe hier auf meinem Blog, weil die meisten Medien von der Regierung kontrolliert werden und Mundpropaganda über das Internet die einzige Möglichkeit ist, um unsere Situation zu erklären und um Hilfe und Unterstützung zu bitten.
Letzten Donnerstag versammelte sich eine Gruppe von Menschen im Gezi-Park in Istanbul, die meisten von ihnen gehörten keiner bestimmten Organisation oder politischen Ideologie an. Unter ihnen waren viele meiner Freunde und Yogaschüler. Ihr Grund war ein einfacher: Sie wollten die drohende Abholzung der Bäume im Park verhindern und gegen die Pläne demonstrieren, anstelle des Parks ein weiteres Einkaufszentrum mitten in der Stadt zu errichten. Es gibt unzählige Einkaufszentren in Istanbul, mindestens eines in jedem Viertel! Am frühen Donnerstagmorgen sollte mit dem Abholzen der Bäume begonnen werden. Die Demonstranten kamen mit Decken, Büchern und ihren Kindern in den Park. Sie stellten Zelte auf und verbrachten die Nacht unter den Bäumen. Am frühen Morgen, als die Bulldozer ansetzten, die einhundert Jahre alten Bäume aus dem Boden zu reißen, stellten sie sich ihnen entgegen.
Sie taten nichts weiter, als sich vor die Maschinen zu stellen.
Weder Tageszeitungen noch Fernsehsender waren vor Ort, um über den Protest zu berichten. Es war ein kompletter Medien-Blackout.
Aber die Polizei rückte mit Wasserwerfern und Pfefferspray an. Sie vertrieb die Menschen aus dem Park.
Am Abend hatte sich die Zahl der Demonstranten vervielfacht. Immer mehr Polizisten umringten den Park. In der Zwischenzeit hatten die lokalen Behörden von Istanbul veranlasst, alle Zugangswege zum Taksim-Platz, an dem der Park liegt, zu versperren. Die Metro wurde geschlossen, Fähren fuhren nicht mehr, Straßen waren blockiert.
Trotzdem kamen immer mehr zu Fuß ins Zentrum der Stadt.
Sie kamen aus ganz Istanbul. Menschen unterschiedlichster Hintergründe, mit verschiedenen Ideologien, verschiedenen Religionen. Sie alle versammelten sich, um etwas Größeres als nur die Zerstörung des Parks zu verhindern:
Sie demonstrierten für das Recht, als ehrenhafte Bürger in diesem Land zu leben.
Sie versammelten sich und marschierten. Die Polizei jagte sie mit Pfefferspray und Tränengas und rückte mit Panzern an gegen Demonstranten, die den Polizisten Essen anboten. Zwei junge Leute wurden von Panzern überrollt und starben (Anmerkung der Redaktion: Amnesty International teilte mit, dass es Berichte über zwei Tote gibt. Allerdings liegen dazu derzeit keine konkreten Angaben und offiziellen Bestätigungen vor). Eine andere junge Frau, eine Freundin von mir, wurde am Kopf von einem der eingesetzten Tränengaskanister getroffen. Die Polizei zielte damit in die Menge. Nach einer dreistündigen Operation liegt meine Freundin noch immer auf der Intensivstation, ihr Zustand ist kritisch. Ich weiß nicht, ob sie die Verletzungen überleben wird. Dieser Blogeintrag ist ihr gewidmet.
Diese Menschen sind meine Freunde, meine Schüler, meine Verwandten. Sie haben keine Hintergedanken und verborgenen Motive, wie der Staat uns glauben machen will. Ihre Motivation ist ganz einfach: Der Staat ist dabei, unser Land an Großkonzerne zu verkaufen, damit Shopping-Malls, Luxuswohnungen, Autobahnen, Dämme und Atomkraftwerke gebaut werden können. Die Regierung sucht nach Rechtfertigungen, um Syrien angreifen zu können - gegen den Willen der meisten Türken.
Die Kontrolle, die diese Regierung über unser Leben ausübt, ist unerträglich geworden. Der Staat mit seiner konservativen Agenda beschließt viele Gesetze zu Themen wie Abtreibung, Kaiserschnitt, Alkoholkonsum, sogar die Farbe des Lippenstifts, den Stewardessen tragen sollen, wird vorgeschrieben.
Die Menschen, die im Zentrum von Istanbul demonstrieren, fordern ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit, Schutz und Respekt vom Staat.
Die Antwort waren exzessive Gewalt und Tränengas, direkt ins Gesicht geschossen. Drei Menschen haben ihr Augenlicht verloren (Anmerkung der Redaktion: Auch dazu gibt es keine konkrete Bestätigung).
Trotzdem marschieren sie weiter. Hunderttausende haben sich angeschlossen. Noch mehr Menschen haben sich angeschlossen und liefen zu Fuß über die Bosporus-Brücke, um die Proteste auf dem Taksim-Platz zu unterstützen.
Keine Zeitung und kein Fernsehsender berichtete über die Geschehnisse. Sie sprachen lieber über die Miss Türkei oder die komischste Katze der Welt.
Die Polizei machte weiter Jagd auf die Demonstranten und benutzte so viel Pfefferspray, dass viele streunende Hunde und Katzen verletzt wurden und starben.
Schulen, Krankenhäuser und sogar 5-Sterne-Hotels rund um den Taksim-Platz öffneten ihre Türen, um sich um die Verletzten zu kümmern. Ärzte boten ihre Hilfe in Klassenzimmern und Hotelzimmern an. Einige Polizisten weigerten sich, Tränengas gegen Unschuldige einzusetzen. Rund um den Platz wurden Störsender aufgebaut, um das Internet und schnelle 3G-Verbindungen zu behindern. Anwohner und Büros vor Ort stellten ihr Wlan zu Verfügung. Restaurants versorgten die Demonstranten kostenlos mit Essen und Getränken.
Menschen in Ankara und Izmir versammelten sich auf den Straßen, um den Protest in Istanbul zu unterstützen.
Die Mainstream-Medien berichteten weiter über Miss Türkei und die komischste Katze der Welt.
Ich schreibe diesen offenen Brief, damit die Welt erfährt, was in Istanbul passiert. In den türkischen Medien werdet ihr darüber nichts erfahren. Bitte verbreitet die Nachrichten!
Auf meiner Facebook-Seite bin ich gefragt worden, was ich mir davon erhoffe, mich öffentlich über mein Land zu beschweren.
Dieser Blogeintrag ist meine Antwort auf diese Frage: Ich erhoffe mir Meinungsfreiheit, Anerkennung der Menschenrechte, Kontrolle über Entscheidungen, die meinen eigenen Körper betreffen. Und ich erhoffe mir das Recht, mich mit anderen zu treffen und zu versammeln, ohne als Terrorist zu gelten.
Aber hauptsächlich erhoffe ich mir durch diesen Blogeintrag eure Aufmerksamkeit, Unterstützung und Hilfe, liebe Freunde überall auf der Welt! Vielen Dank."
So können Sie aktiv werden:
Weitere Informationen zur Lage in der Türkei finden Sie bei Amnesty International - dort erfahren Sie auch, wie Sie aktiv werden können, um die friedlichen Demonstranten in der Türkei zu unterstützen.