Alles begann 2010 mit ein paar Selfies am New Yorker Times Square. Als Haley Morris-Cafiero später ihre Fotos betrachtete, fiel ihr auf, dass der Mann hinter ihr sie spöttisch ansah. Es faszinierte sie, dass er ausgerechnet sie anstarrte, wo sie sich doch an einem Ort befanden, der sehr viele, sehr laute Reize bot. Und dass der Mann seine Augen an ihren Körper heftete, obwohl er gerade von jemand anderem fotografiert wurde.
Die Idee für die Fotoserie “Wait Watchers” war geboren – „Wait Watchers“ ist ein Wortspiel aus „Weight Watchers“ und „Schaulustige“. Seit dem Erlebnis am Times Square stellt Morris-Cafiero ihre Kamera auf der Straße so auf, dass sie die Blicke der Passanten einfängt, die sie betrachten – und fotografiert mit Selbstauslöser. Besonders gern ist sie an Orten unterwegs, wo viele neugierige Menschen unterwegs sind, etwa an Sehenswürdigkeiten in Miami, Madrid oder Prag.

Mit ihren Fotos möchte die 39-Jährige ergründen, wie Menschen mit ihren Blicken Gefühle ausdrücken. Ihre Bilder werfen die Blicke der Fremden zurück und treten in einen stummen Dialog mit ihnen.

Im Februar 2013 stellte sie ihre ersten Fotos ins Netz, wo sie tausendfach kommentiert wurden. Besonders häufig kam der Hinweis, dass ihr Leben um einiges besser wäre - manchmal sogar die ganze Welt - wenn sie nur abnehmen würde.

Einige der Kommentare machten Morris-Cafiero Mut, andere troffen vor Hass und Ekel. Was sich sonst nur in den stummen Blicken der Schaulustigen zeigt, wird im Schutz der Anonymität ausformuliert: „Fettes Stück Schmalz. Lass die Finger von den Donuts und geh joggen. Macht mich schon krank, sie nur anzusehen“ („Fat lump of lard. Stay off the donuts and go running. Makes me ill just to look at her“). Aber auch: “Du bist brilliant und erstaunlich und mutig, und ich verstehe völlig die Absicht hinter deinem Projekt” („You are brilliant and amazing and courageous and I wholeheartedly understand the intent of this project”).

Mit ihrem Experiment hat Morris-Cafiero eine schmerzhafte und fruchtbare Diskussion über die Stigmatisierung übergewichtiger Menschen in den westlichen Gesellschaften angestoßen.
Nun erscheinen ihre Fotos als Buch. In The Watchers („Die Schaulustigen“) zeigt sie ihre Fotos und ausgewählte Kommentare der Betrachter. Es ist das erste Buch der Amerikanerin. Normalerweise unterrichtet sie an der Kunsthochschule in Memphis.
