BRIGITTE WOMAN: Frau Hannig-Pasewald, ich habe zwölf Freundinnen, die in Beziehungen leben. Wie viele von ihnen sind laut Statistik Opfer von häuslicher Gewalt?
Statistisch betrachtet ist eine akut betroffen, hat also in den letzten zwölf Monaten sexualisierte oder körperliche Gewalt durch den Partner erlebt. Knapp vier waren mindestens einmal im Leben Opfer von Beziehungsgewalt. Viele seriöse Studien kamen alle zu ähnlichen Ergebnissen: Rund einem Drittel aller Frauen ist schon mal von einem Freund oder Ehemann Gewalt angetan worden.
In welcher Form?
Zur sexualisierten Gewalt gehört der erzwungene Sex, aber auch das Begrabschen des Körpers gegen den ausdrücklichen Willen der Frau. Körperliche Gewalt beginnt bei Schubsen oder Ohrfeigen, zu ihren schweren Formen zählt alles, was zu schweren Verletzungen bis hin zum Tod führen kann: zusammenschlagen, treten, würgen, schleudern, verbrennen, verbrühen.
Fast unvorstellbar ...
... aber leider wahr. Ich berate täglich Frauen, denen so was passiert. Die erzählen: "Gestern hat er mich wieder unter den Waschtisch geworfen. Im Büro gucken schon alle so komisch und fragen: 'Bist du krank?' Ich lächele dann und sage: 'Nee, alles gut!'"
Gibt es Bevölkerungs-Schichten, in denen Gewalt besonders häufig vorkommt?
Nein. Es gibt Risikofaktoren wie Alkohol- oder Drogenkonsum, Arbeitslosigkeit oder Migrationshintergrund. Alle diese Faktoren bedeuten Stress, und der ist immer ein Nährboden für Gewalt. Aber den gestressten Manager, der seine Frau schlägt, den gibt es eben auch: Gewalt kommt in allen Einkommens-, Bildungs- und Altersschichten vor. Eine große Studie von 2004 hat ergeben, dass gut gebildete Frauen ab 45 sogar überdurchschnittlich oft betroffen sind.
Gibt es dafür eine Erklärung?
Dazu gibt es leider noch keine Untersuchungen. Vielleicht, weil diese Frauen häufiger als andere gegen Rollenerwartungen verstoßen und manche Männer beim Versuch, ihre Überlegenheit wiederherzustellen, gewalttätig werden. Für Frauen aus den sogenannten guten Kreisen - wie die Ehefrau eines Arztes, die ich neulich beraten habe - ist es häufig besonders schwer, sich Hilfe zu holen.
Warum das?
Weil sie in einer Welt leben, in der alles perfekt sein muss. Jedenfalls kommt es nicht selten vor, dass auch erfolgreiche, finanziell unabhängige Frauen vom Partner misshandelt werden. Eine meiner Klientinnen arbeitet in einer Führungsposition, sie ist für 25 Mitarbeiter verantwortlich, eine eloquente, kluge Frau. Die sagte: "Wenn ich nach Hause komme, hänge ich mein Selbstbewusstsein an der Garderobe auf - und dann geht's los." So beschreiben es viele Frauen: Es ist, als hätten sie neben ihrem offiziellen ein zweites Selbst, das sich, sobald die Haustür zugeht, wehrlos schlagen und erniedrigen lässt.
Häusliche Gewalt ist also kein Randphänomen. Wieso ist das Thema öffentlich trotzdem so wenig präsent?
Feministinnen vertreten die These, dass die Medien männerdominiert sind und deshalb so wenig über Beziehungsgewalt berichtet wird, weil sie nun mal hauptsächlich von Männern an Frauen verübt wird.
Es gibt auch Frauen, die ihre Männer schlagen.
Aber viel seltener. Und wenn, handelt es sich meist um leichte Gewalt, von der sich die Männer zudem deutlich weniger bedroht fühlen als umgekehrt. Frauen üben eher Gewalt gegenüber Kindern aus, häufiger übrigens als Väter. Ich glaube, der Hauptgrund dafür, dass das Thema nach wie vor tabuisiert wird, ist der, dass es mit gewaltiger Scham verbunden ist. Kein Mensch möchte das sagen müssen: Mein Partner - oder meine Partnerin - schlägt mich.
Darum könnte man ja meinen, dass eine Frau, der so etwas passiert, sich sofort trennt.
Rund ein Drittel aller Betroffenen tut das auch, sofort nach dem ersten Übergriff. Das zweite grobe Drittel gibt dem Mann zwei, drei oder auch fünf Chancen, dann ist Schluss. Ein Drittel der Frauen aber schafft es nicht, sich vom Partner zu lösen, selbst wenn er schwere Gewalt ausübt - oder nur nach einem sehr langen Prozess.
Für Nichtbetroffene ist das nur schwer nachvollziehbar.
Es gibt Untersuchungen, dass 80 Prozent der Frauen, die in Gewaltbeziehungen bleiben, bereits als Kinder familiäre Gewalt erlebt haben - am eigenen Leib oder als Zeugen, wenn der Vater die Mutter verprügelte. Diese Frauen finden in einer Gewaltbeziehung wieder, was ihnen von klein auf vertraut ist, nämlich dass Liebe und Angst untrennbar miteinander verbunden sind.
... so wie es beim Vater war?
Genau. Außerdem: Der Mann schlägt ja nicht nur, er ist auch immer wieder sehr aufmerksam und liebevoll - gerade nach Gewaltausbrüchen. Die meisten sind ja keine Sadisten, sondern haben sich aus verschiedenen Gründen nicht im Griff und bereuen hinterher zutiefst, was sie getan haben. Manche werfen sich regelrecht auf den Boden, flehen um Verzeihung, kaufen rote Rosen und schwören: "Ohne dich will ich nicht leben!" Aus dieser Beziehungsdynamik folgen nicht nur Schmerz und Angst, sondern auch intensive Glücksgefühle.
Was für Männer sind das, die ihre Frauen vergöttern und verprügeln?
Häufig Männer, die ihre Partnerin sehr, sehr lieben - auf eine pathologische Weise: Sie fühlen sich so abhängig von ihr, dass sie sie besitzen wollen, notfalls mit Gewalt. Gerade die, die nach einem Gewaltausbruch weinend zusammenbrechen, haben oft auch als Kind Gewalt erfahren und suchen nun als traumatisierte Erwachsene nach einer Frau, die sie rettet.
So ein Retterinnen-Ich steckt ja in vielen Frauen.
Ja, und solche Frauen denken: Wenn ich ihn nur genug liebe, werde ich ihn von seinem Trauma und von seinen Aggressionen heilen. Sie glauben ihm, wenn er sagt: "Wenn du liebe- und verständnisvoller wärest, würde ich nicht so ausrasten!" und fühlen sich selbst schuldig, wenn sie misshandelt werden. Dann gibt es noch das sehr komplizierte Phänomen, das man Stockholm-Syndrom nennt. Wenn ein Mensch massiver Gewalt ausgesetzt ist, kann es passieren, dass er sich mit dem Täter solidarisiert: Man gesteht ihm das Recht zu, einem Leid zuzufügen, weil die Einsicht, wie falsch, ungerecht und sinnlos sein Verhalten ist, unerträglich wäre. Der Täter muss gut bleiben, weil man tatsächlich oder emotional existenziell auf ihn angewiesen ist.
Kann man erkennen, ob der Mann, in den man verliebt ist, gewaltanfällig ist oder nicht?
Es gibt einige typische Warnzeichen. Oft beginnen solche Beziehungen mit einer Überhöhungsphase, der Mann beteuert schon nach kurzer Zeit: "Du bist die Frau meines Lebens, mein Augenstern, ich will nie wieder ohne dich sein!" Aber daraus wird relativ schnell ein Besitzanspruch: "Du brauchst doch diesen Job gar nicht, ich sorge für dich. Warum triffst du dich ständig mit Freunden, reiche ich dir nicht?" Bis er schließlich - erst subtil, dann immer offener - eine übertriebene Eifersucht zeigt: "Muss dein Ausschnitt so tief sein? Wo kommst du her? Zeig mir mal dein Handy! Gib zu, du miese Schlampe, dass du was mit XY hast!" Diese Art von psychischer Gewalt - die auch viele Frauen ihren Männern gegenüber ausüben - mündet nicht immer, aber häufig in physische Gewalt. Zunächst beginnt das mit einem eher harmlosen Vorfall, etwa einem leichten Schubsen in einer emotional sehr aufgeladenen Situation.
Wenn eine Beziehung an diesem Punkt angelangt ist, was empfehlen Sie?
Sich sofort beraten zu lassen - und zwar am besten schon dann, wenn ein Partner den anderen zu kontrollieren beginnt, also seelische Gewalt ausübt. Denn die Erfahrung zeigt, dass jede Gewalt, sowohl die seelische als auch die körperliche, immer weiter eskaliert. Je früher ein Paar versucht, aus der Gewaltspirale auszusteigen, desto besser, auch weil dann die Wahrscheinlichkeit steigt, dass sie das gemeinsam schaffen.
Welche Folgen hat es für Frauen, wenn sie in einer Gewaltbeziehung verharren?
Die, die schwerer Gewalt ausgesetzt sind, und das betrifft ungefähr ein Drittel aller Gewaltbeziehungen, sind natürlich körperlich sehr beeinträchtigt, für sie besteht reale Lebensgefahr. Aber auch die anderen leiden unter gravierenden gesundheitlichen, oft psychischen Problemen - hervorgerufen durch das permanent erniedrigte Selbstwertgefühl, die ständigen Angst-, Scham- und Schuldgefühle. Eine meiner Klientinnen guckt jeden Morgen nach dem Aufwachen als Erstes auf ihren Mann: Wie ist er gelaunt? Scheuert er mir gleich eine, fliege ich wieder aus dem Bett, oder fällt er über mich her, weil er Sex braucht? Oder schaffe ich es heute, ins Bad zu schleichen und zur Arbeit zu entwischen? Eine solche Situation bedeutet Dauerstress ...
... und der macht krank.
Er führt zu Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken, chronischen Schmerzen, selbstverletzendem Verhalten, zu Süchten, Essstörungen, zu allen Formen traumatischer Belastungsstörungen und mehr. Oft melden sich die Frauen bei der Arbeit krank, schlimmstenfalls verlieren sie ihren Job, so dass sie noch abhängiger vom Mann werden.
Misshandeln Männer, die Frauen gegenüber gewalttätig sind, auch ihre Kinder?
Da gibt es keinen zwangsläufigen Zusammenhang. Aber selbst wenn ein Kind nur Zeuge von ständiger Gewalt ist, hat das verheerende Folgen. Es macht ja die Erfahrung: Meinen Vater kann ich nicht davon abhalten, meiner Mutter weh zu tun. Meine Mutter kann sich nicht schützen - und ich sie auch nicht, ich kann nichts tun, ich bin total ohnmächtig. Eine Langzeitstudie hat gezeigt: Noch im Erwachsenenalter leiden diese Kinder unter Passivität, depressivem Denken und Konzentrationsstörungen, sie haben im Durchschnitt schlechtere Schulabschlüsse und leben häufiger in Gewaltbeziehungen. Für Kinder ist es immer eine Riesenentlastung, wenn die Mutter es schafft, sich aus einer solchen Beziehung zu lösen und in Sicherheit zu bringen - egal wie schwierig es danach weitergeht. Häufig ist sogar wieder ein bessere Beziehung zum Vater möglich.
Kann ich erkennen, ob eine Frau in meinem Umfeld von häuslicher Gewalt betroffen ist?
Ein Hinweis ist: Es gibt mehrere Verletzungen, die unterschiedlich alt sind. Es ist relativ typisch, dass die Frauen diese Verletzungen sehr schnell von sich aus ansprechen und eine Erklärung liefern: "Ach, und dann bin ich dumme Nuss gegen den Schrank gelaufen ..." Wenn der Partner zugegen ist, ist der oft sehr kontrollierend, immer um sie herum. Schwere Gewalt wird häufig begleitet von sozialer Isolation: Entweder die Frau selbst meidet den Kontakt zu anderen, aus Scham und Angst vor Nachfragen. Oder der Partner verbietet es ihr.
Aber wenn solche Frauen kaum noch Kontakt zu Freundinnen haben ...?
... dann sind es oft die Nachbarn, die etwas ahnen. Schon wegen der Nähe zum Tatort: Gewalt ist ja meist sehr laut.
Und wie kann ich dann helfen?
Entweder Sie rufen die Polizei. Oder Sie sprechen die Nachbarin an: "Es war gestern wieder so ein Krach bei euch, ich war kurz davor, die Polizei zu rufen. Soll ich das das nächste Mal tun?" Ich weiß von einer Klientin, die es unglaublich entlastend fand, dass eine Nachbarin genau dies getan hat. Oder Sie sagen einfach: "Ich mache mir Sorgen um Sie!" Vielleicht nimmt die Frau das Angebot an und antwortet: "Ja, ich brauche Hilfe!"
Aber wenn ich falsch liege, ist das nicht total unangenehm - für alle?
Eine solche Frage, wenn sie freundlich und vorsichtig formuliert ist, ist ein Zeichen von Aufmerksamkeit! Und es steht Ihrem Gegenüber ja frei zu antworten, wie er oder sie will - umso besser, wenn Sie sich geirrt haben. Falls Sie aber mitbekommen, dass die Frau tatsächlich in Not ist, ist es hilfreich zu sagen: "Du musst dir nicht alles gefallen lassen, lass dich beraten! Hier kannst du anrufen oder hingehen."
Was genau kommt auf eine Frau zu, die sich traut, Ihr Beratungsangebot wahrzunehmen?
Das Erste, was ich sage, ist: "Gut, dass Sie hier sind!" Dann bespreche ich: Wie gefährdet ist die Frau gerade, welche konkreten Sicherheitsmaßnahmen gibt es in ihrer Situation? Zum Beispiel: immer ein Handy in der Hand halten, immer mit dem Rücken zur Tür, bei der Nachbarin oder bei der Freundin einen Notfall-Koffer hinterlassen mit den notwendigsten Sachen, Ausweiskopien und ein paar Klamotten. Ich kläre sie über ihre rechtlichen Möglichkeiten auf, die ja relativ gut sind. Und ich gucke natürlich: Sind Kinder involviert?
Viele Betroffene fürchten sicher, dass Sie das Jugendamt einschalten.
Dazu bin ich erstens nur im absoluten Ausnahmefall verpflichtet. Zweitens: Um Frauen diese Befürchtung zu nehmen, kann man sich bei uns und den meisten anderen Beratungsstellen nicht nur kostenlos, sondern auch anonym beraten lassen.
Empfehlen Sie den Frauen, sich zu trennen?
Nein. Ich sage nie: "Du musst ihn verlassen und anzeigen." Eine Trennung ist schwer und nicht immer die richtige Lösung - erst recht nicht, wenn die Beratung gerade anfängt. Was ich allerdings manchmal sage, ist: "Ich bin in großer Sorge um Sie!" Frauen, die schwere Gewalt erleiden, nehmen oft gar nicht mehr wahr, in welcher Gefahr sie leben, die spalten das ab und berichten fast emotionslos von gruseligsten Gewalttaten. Und natürlich gibt es Situationen, in denen ich rate, ins Frauenhaus zu gehen. Aber das ist ja nur eine akute Schutzmaßnahme, eine Trennung auf Zeit: Viele Frauen gehen nach dem Frauenhaus wieder zurück zu ihren Männern.
Und wie geht es dann weiter?
Ich gucke mit der Frau Schritt für Schritt, was für sie realistisch und machbar ist. Viele sind ja, wenn sie zu uns kommen, gelähmt vor Angst und denken: Ich kann sowieso nichts ändern. Häufig trichtert ihnen der Gewaltausübende seit Jahren ein: "Dich will doch sowieso keiner! Du bist ja nur ein Stück Dreck!" Was immer in einer Gewaltbeziehung auch an psychischer Gewalt läuft: Die ist so destruktiv, dass viele sich als total abhängig erleben, sei es finanziell, emotional, kulturell oder familiär. Ich helfe diesen Frauen, darüber nachzudenken, ob es nicht vielleicht doch einen Ausweg gäbe und wie er aussehen könnte. Es ist nie zu spät, etwas zu verändern.
Die Expertin: Iris Hannig-Pasewald ist eine auf Traumatherapie spezialisierte Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapeutin und arbeitet als Geschäftsführerin der Beratungsstelle Opferhilfe Hamburg.