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HĂ€usliche Gewalt: Diese Nachbarn schauen nicht weg! đŸ’Ș

HĂ€usliche Gewalt: Nachbarn, schaut nicht weg!
© iko Aramyan / Shutterstock
Frauen, die von ihrem Partner geschlagen werden, tun sich oft schwer, zu einer offiziellen Beratungsstelle zu gehen. Ein Projekt setzt deshalb auf die, die den Opfern am nÀchsten sind: ihre Nachbarn.

Als Rana Cansel* beschloss, dass es genug sei, lag sie rĂŒcklings auf dem Lattenrost ihres Ehebettes. Ihr Mann beugte sich ĂŒber sie, die Matratze hatte er in seiner Wut beiseitegeschoben. Was hast du dir nur dabei gedacht, schrie er die 38-JĂ€hrige an. Ohne mich zu fragen, eine Party fĂŒr unsere Tochter zu organisieren! Er packte sie am Hals, sie kriegte kaum Luft. Als er endlich von ihr abließ, brachte sie das Wort heraus, mit dem sie sich ihr Leben zurĂŒckholen wĂŒrde. Geh, sagte sie. Nie wieder sollst du mir und meinen Kindern etwas antun.

Die Opfer von hÀuslicher Gewalt lassen sich oft nichts anmerken

Achtzehn Jahre lang hatte Rana Cansels Ehemann seine Frau geschlagen. Mit niemandem hatte sie darĂŒber gesprochen, nicht mal mit ihrer Mutter. Hatte die glĂŒckliche Ehefrau gespielt, fĂŒr ihn und die Freunde im Hamburger Stadtteil Steilshoop. Drei Kinder, ein Reihenhaus, Urlaube am Mittelmeer.

Keiner hatte wissen sollen, was er ihr antat.

Geschichten wie die von Rana Cansel könnte man viele erzĂ€hlen. Laut einer Studie der Agentur der EU fĂŒr Grundrechte wurde mehr als jede fĂŒnfte Frau in ihrem Leben schon mal von ihrem Partner geschlagen oder misshandelt. 138893 Opfer partnerschaftlicher Gewalt gab es in Deutschland 2017 laut Polizeistatistik, 82 Prozent davon Frauen. Die Dunkelziffer ist wohl viel höher. Denn Frauen, die von ihrem Partner geprĂŒgelt werden, schweigen oft lange. Nur jede fĂŒnfte sucht sich laut Bundesfamilienministerium Hilfe - aus Scham, aber auch, weil der Gang zu einer professionellen Beratungsstelle schwerfĂ€llt. Manchmal ist es dann zu spĂ€t: 147 Frauen wurden 2017 von ihren Partnern getötet.

Mama, schließ dich ein, wenn Papa kommt, bat der vierjĂ€hrige Sohn von Rana Cansel seine Mutter kurz nach dem Auszug des Vaters im Februar 2016, wenn der ihn regelmĂ€ĂŸig von zu Hause abholte, um ihn in die Kita zu bringen. Alle drei Kinder hatten mitbekommen, dass der Vater seine Frau geschlagen hatte. Auch die Ă€lteren Töchter hatte er geohrfeigt. Wenn er heimgekommen war, hatten sie ihre Zimmer abgeschlossen. Und tatsĂ€chlich lebte Rana Cansel nach der Trennung in stĂ€ndiger Angst. Ihr Mann hatte ja den SchlĂŒssel. Einmal sah sie ihn am Haus vorbeifahren. Was, wenn er jetzt reinkĂ€me?

Telefonketten, verstĂ€rkte TĂŒren: Wenn Nachbarn zu mehr als nur Anwohnern werden

Nach sechs Wochen hielt sie es nicht mehr aus. Sie rief Ewgenia Falkenberg an, eine Sozialarbeiterin aus der Nachbarschaft, deren Gesicht in Steilshoop fast jeder kennt. Falkenberg koordiniert "StoP - Stadtteile ohne Partnergewalt", ein Projekt, das die Hamburger Sozialwissenschaftlerin Sabine Stövesand vor 15 Jahren entwickelte. Damals hatte sie in einem Frauenhaus mitbekommen, wie eine misshandelte Mutter von fĂŒnf Kindern dank engagierter Nachbarn zurĂŒck ins Leben fand. Einer verstĂ€rkte die TĂŒr ihrer Wohnung, sodass sie sich sicher fĂŒhlen konnte. Andere bildeten eine Telefonkette mit nĂ€chtlichem Bereitschaftsdienst, um ihr im Notfall beistehen zu können. "Nachbarn wissen viel", sagt Stövesand.

Manchmal könne schon ein Klingeln an der TĂŒr dafĂŒr sorgen, dass nichts Schlimmeres passiere. Das "StoP"-Projekt ist heute weit ĂŒber die Grenzen Hamburgs hinaus berĂŒhmt, es gibt Ableger in Dresden, Aachen, Glinde in Schleswig-Holstein und Wien - und die 17 Menschen, die sich in Steilshoop dafĂŒr engagieren, sind in ihrem Viertel wohl bekannt. Das ist gewollt. Denn sie sollen Botschafter sein. Wenn sie als Elternvertreter oder Kirchenmitarbeiter auf Schulfesten, in Jugendtreffs und Gemeindezentren unterwegs sind, sollen Frauen, die zu Hause in Angst leben, sie jederzeit ansprechen können. Die Mitarbeiter planen dann mit ihnen die nĂ€chsten Schritte. Denn zu einer Beratungsstelle trauen sich von allein nur wenige. "Nachbarn und Bekannte ersetzen die professionelle Beratung nicht", sagt Falkenberg. "Aber sie können Frauen helfen, sich an sie zu wenden."

Die „StoP“-Mitarbeiter empfehlen den Frauen zudem, ihrem nĂ€heren Umfeld von ihrem Problem zu erzĂ€hlen, damit Bekannte ihnen zur Seite stehen können. Und sie ermuntern die Menschen, nicht wegzuhören, wenn sie Schreie aus der Nachbarwohnung hören. FĂŒr den, der lernen will zu helfen, ohne sich selbst zu gefĂ€hrden, gibt es Schulungen.

Nach und nach bildeten die Menschen eine schĂŒtzende Mauer zwischen Cansel und ihrem Mann.

Rana Cansel erzĂ€hlte Ewgenia Falkenberg von ihrer Angst und den SchlĂ€gen. Die Sozialarbeiterin ging mit ihr daraufhin zum Familiengericht und erwirkte eine Wegweisung, einen Beschluss, der ihrem Mann verbat, das gemeinsame Haus zu betreten. Und sie riet ihr, den Menschen, mit denen sie tĂ€glich zu tun hatte, zu erzĂ€hlen, was passiert war: der Schule, der Kita, den Nachbarn.Sobald Cansel das Haus verließ, rief sie von nun an ihre Nachbarin an, damit die wusste, wohin sie ging. Auch ihre Kinder wussten, an wen sie sich wenden konnten, wenn sie Angst vor dem Vater hatten. Nach und nach bildeten die Menschen eine schĂŒtzende Mauer zwischen Cansel und ihrem Mann. So unauffĂ€llig, dass sie sich nicht ĂŒberwacht fĂŒhlte, so zuverlĂ€ssig, dass die Angst verschwand.

Heute, fast drei Jahre nach der Trennung von ihrem Mann, lebt sie nach wie vor in ihrem Hamburger Reihenhaus. Auf ihrem Sofa wĂ€hlt sie noch immer den Platz, von dem sie aus durchs Fenster sehen kann, wenn plötzlich jemand vor der HaustĂŒr steht. Doch sie sagt auch: Es ist mein Haus. Sie will sich nichts mehr wegnehmen lassen. Gerade macht sie eine Ausbildung zur Altenpflegerin, irgendwann will sie ihren eigenen Pflegedienst leiten. Endlich lebe ich, sagt sie.

*Der Name wurde von der Redaktion geÀndert

VIDEOTIPP: Eine Frau erzÀhlt von ihrer Erfahrung mit hÀuslicher Gewalt

Brigitte 05/2019

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