Am 30. April fuhr der Berliner Jesper Weber mit einer kleinen Gruppe von Mitgliedern der Evangelischen Gemeinde Deutscher Sprache Tokio in die stark von Erdeben und Tsunami betroffene Präfektur Iwate am nordöstlichen Zipfel von Japan. Die Deutschen wollten vor Ort herauszufinden, wie man die aus Deutschland und Japan zusammengekommenen Spendengelder am sinnvollsten einsetzen könnte. Ziel waren die Hafenstädte Kamaishi und Otsuchi. Besonders Projekte zur Unterstützung von Kindern sollten dabei berücksichtigt werden.
Anfahrt
Der Verkehr auf der Autobahn nach Norden aus Tokio heraus fließt, am Gepäck erkennt man, dass viele als Helfer ins Katastrophengebiet unterwegs sind. Der befürchtete Stau zu den "Golden Week"-Feiertagen in Japan bleibt aber aus. Viele lokale Verwaltungen hatten einen "Freiwilligenstopp" verhängt, nachdem die Quoten gefüllt waren.
Uns wurde im Verlauf der nächsten Tage klar, wie sinnvoll diese Maßnahme ist. Wer als Tourist nur zum Schauen käme, ginge nicht ohne psychologischen Schaden wieder weg. Die Bilder und Eindrücke lassen sich seelisch nur verarbeiten, wenn man konkret und aktiv etwas beitragen kann.
Die Hälfte der Damen-Kollektion war schwarz: Trauerkleidung.
Noch eine Woche später, lange wieder zurück im bequemen Tokio, hängt mir weiter der Geruch von Otsuchi in der Nase: nicht vollständig ausgebranntes Kerosin aus den Heizöfen, vermischt mit Verfaultem und leider wahrscheinlich auch Verwestem, das noch unter den Trümmern liegt. Wir haben keine Leichen gesehen, aber an vielen Stellen sehr konkrete und bildhafte Berichte von Überlebenden gehört, wie sich die Katastrophe entfaltet hat und wie Menschen ums Leben gekommen sind.
Auch die Abteilung für Damenmoden im Kaufhaus nahe bei unserem Hotel geht mir nicht aus dem Kopf. Die Hälfte der angebotenen Kollektion war schwarz: Trauerkleidung.
Der Nordosten und speziell die Pazifikküste waren ein beliebtes Urlaubsgebiet. Die fjordähnliche Küste Sanriku war sogar eine der "Drei Schönsten Japanischen Landschaften". Dort reihten sich vor dem Tsunami malerisch Dorf an Dorf zwischen wunderschönen Bergen, Wäldern, Flüssen und Feldern.
Auf halbem Weg aus Tokio wird die Autobahn wellig, streckenweise zum Waschbrett, die schlimmsten Schäden sind aber bereits ausgebessert. Ungefähr ein Zehntel des Verkehrs auf der Autobahn sind Fahrzeuge der Selbstverteidungsstreitkräfte (SDF, das japanische Berufsmilitär), die meisten sind durch ein Banner klar als im Katastropheneinsatz markiert.
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Weg nach Kamaishi
In der direkten Umgebung von Kamaishi sind am 1. Mai, 51 Tage nach dem Beben, bis auf einige fehlende Dachziegeln und viele frisch gedeckte Dächer keinerlei Spuren von Verwüstung zu sehen. Am Ortseingang von Kamaishi sind die Convenience Stores geöffnet, gut bestückt und nehmen normale Preise.
Vor Kamaishi war ein zehn Meter hohes Bollwerk gegen Flutwellen errichtet worden, die Kosten dafür betrugen 200 Milliarden Yen, ungefähr 1,7 Milliarden Euro. Es war das höchste in der Welt und wurde trotzdem über- und weggespült. Stadtrat Goda, der uns durch den Ort führt, verwehrt sich gegen Vorwürfe in der Presse, man hätte aus Hybris die Mauer nicht hoch genug gebaut. Sie haben nämlich dennoch die Fluten eine Weile zurückgehalten und so den Menschen zusätzliche Minuten zur Flucht verschafft, außerdem wurden viele Stadtteile vor der Überflutung bewahrt.
Fünf Tage - länger erträgt man es nicht zu helfen
Im benachbarten Otsuchi wurden über 80 Prozent der Häuser zerstört. Nach dem Beben trug der Tsunami brennendes Öl aus einem Kombinat am Hafen in die Stadt, nach der Feuersbrunst sind nur noch Haufen ausgebrannter Autos und einige Betonteile zu sehen.
Vielen Einwohnern ist die Flucht nicht gelungen. Sie kannten sich mit Tsunamis aus und beobachteten das Meer, ob es sich zurückziehen würde, was ein typischer Vorbote in seichten Gewässern ist. Niemand konnte wissen, dass der Seeboden sich in Küstennähe durch das Beben stark abgesenkt hatte und der Wasserpegel somit gleich blieb.
Von 16.000 Einwohnern wurden 700 tot geborgen. 1.000 werden noch vermisst.
Die aufräumenden Soldaten müssen nach jeweils fünf Tagen abgezogen werden, denn länger ist der Einsatz psychologisch nicht zu ertragen. Früher war es schlimm und selten, eine Leiche zu finden. Nun ist es erleichternd und für die Menschen fast ein Anlass zur Freude, weil so ein gewisser Abschluss gefunden wird.
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Kamaishi-Hoikuen Kinderhort
Frau Fujiwara läuft an diesem Morgen zum ersten Mal seit einigen Wochen auf den von ihr geleiteten "Kamaishi Hoikuen" Hort zu und stellt mit Freude fest, dass die Straße wieder sauber ist. Dabei ist es eigentlich nur die Fahrbahn selbst, die Häuser liegen in Ruinen, Autowracks und Müll versperren den Bürgersteig. In der ersten Zeit nach dem Beben, als sie nach Akten und brauchbaren Sachen suchen kam, waren die Straßen durch Schlamm, Schutt und tote Körper unpassierbar. Jetzt steht eine Kiste mit gelben, kindersicheren Scheren vor dem Eingang, die Helfer geborgen und gereinigt haben.
Am 11. März machten 78 Kinder im Alter von null bis fünf Jahren Mittagsschlaf, als die Erde sich um 14.46 Uhr aufbäumte. Der Hort liegt weniger als 500 Meter vom Hafen entfernt am Kopf einer Sackgasse, die geradeaus zu einem Berg führt. Die Erzieherinnen führten regelmäßig Evakuierungsübungen mit den Kindern durch.
Ihr Regelverstoß rettete den Kindern das Leben
Die Kinder schliefen im Erdgeschoss und waren nach nur zehn Minuten in Bollerwagen gepackt oder in Schlangen aufgestellt und mit den sechs Erziehern und einem Verwaltungsangestellten zum Abmarsch bereit. Nicht nach Plan lief, dass die Straße vor dem Hort schon dann komplett mit Autos verstopft war. Weder die Bollerwagen noch die benachbarte Feuerwehr konnten ausrücken. Ebenfalls anders als in den Übungen wurde über das öffentliche Lautsprechersystem nicht vor einem Tsunami, sondern vor einem Super-Tsunami gewarnt. Niemand wusste zwar, wann ein Tsunami zu einem Super-Tsunami wird, aber das nie vorher gehörte Wort versetzte sie in Furcht. Frau Fujiwaras Erinnerungen sind nicht ganz klar, sie meint, dass entweder die Feuerwehrleute oder die Lautsprecher ankündigten, eine Wasserwand von zehn Metern Höhe rase auf die Stadt zu. Vielleicht, so sagt sie, hat sie das aber auch erst später in ihre Erinnerungen eingebaut.
Jedenfalls entschied sie, statt zur 500 Meter entfernten Grundschule, die als Fluchtpunkt vorgeschrieben war, die 100 Meter geradeaus zum Park auf den Berg zu gehen.
Diese Entscheidung hat allen Kindern in ihrer Obhut das Leben gerettet.
Sechs Kinder wurden noch von ihren Eltern abgeholt, bevor die Welle ankam. Sie sind ums Leben gekommen. Andere Kinder haben ihre Eltern verloren, die sie in der Grundschule abholen wollten und Richtung Hort aufbrachen, als sie sie dort nicht fanden. Auf dem Weg wurden sie vom zweiten Tsunami erwischt.
In den ersten drei Tagen und Nächten nach dem Tsunami mussten die Kinder und Erzieher ohne frisches Wasser und ausreichend Essen im benachbarten Krankenhaus ausharren. Keines der Kinder soll geweint haben, sie standen zu sehr unter Schock.
Vom Hort stehen nur noch die Außenwände. Auf dem Spielplatz im Garten türmt sich Schutt, Autowracks wurden bis in die Räume getragen. In einem anderen Kindergarten im Landesinneren, der gerade geschlossen worden war, fand der Hort Anfang April ein neues Zuhause. Das Haus stellte die Stadt ohne Miete zur Verfügung, die Gruppen können es für drei Jahre benutzen. 38 Kinder, inklusive einiger Neuzugänge, sind zurückgekehrt.
Osanago-Yochien Kindergarten
Der Kindergarten "Osanago-Yochien" in Otsuchi liegt 400 Meter vom Meer entfernt. Als die Erde bebte, warteten die letzten 17 Kinder und sieben Erzieherinnen gerade auf den Bus. Die Erzieherinnen entschieden, die Kinder zu einem benachbarten Tempel zu evakuieren. Von dort wurden sie weiter auf einen Berg geschickt.
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Nach nur zehn Minuten stand das Wasser im Kindergarten 2,20 Meter hoch. Spielplatzgeräte wurden später über 100 Meter landeinwärts gefunden, im Vorgarten lagen vier Leichen. Im Büro hatte die Leiterin kurz vor dem Beben die Abschlussurkunden für den ältesten Jahrgang in Mappen gespannt und diese aufgeschlagen auf dem Schreibtisch liegen lassen. Am Tag nach dem Beben lagen sie wieder genau am gleichen Platz, trocken und unbeschädigt. Vermutlich hatten sie sie auf dem eindringenden Wasser getrieben und waren dann wieder herabgesunken. Die Erzieherinnen haben sie einzeln den Familien übergeben, als sie Besuche machten, um sich nach dem Schicksal der Kinder zu erkundigen.
Von den 17 Kindern sind alle bis auf eins, das von der Mutter noch abgeholt wurde und mit ihr ertrank, gerettet worden. Sie haben die nächsten Tage mit den Erzieherinnen im Aufnahmelager verbracht, bis die Familien sie abholen konnten.
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Die Leiterin, Frau Hakoyama, eine 80-jährige Dame, will ihr Lebenswerk nicht aufgeben und den Menschen mit einem funktionierenden Kindergarten die Rückkehr in den Ort erleichtern. Die Erzieherinnen haben einen Monat lang geputzt und geräumt, erst allein, nach zwei Wochen mit Helfern.
Von den ursprünglich 64 Kindern sind 34 weiterhin eingeschrieben, jeden Tag kommen ungefähr 20, nur zwei davon wohnen noch in ihrem alten Haus. Die anderen sind bei Verwandten oder in Aufnahmelagern untergekommen, teilweise über 20 Kilometer entfernt. Sie können oft erst spät abends abgeholt werden. Kindergärten in Japan haben keine Küche, und viele Eltern können in den Notlagern keine Essenspakete zubereiten. Also helfen alle mit, die eine funktionierende Küche haben und bringen Essen vorbei.
Viele Kinder weigern sich zurückzukommen, weil sie den Stress der täglichen Fahrt durch die Ruinenlandschaft nicht ertragen. Die Kinder, die kommen, spielen "Rennt, der Tsunami kommt!" und klammern sich bei Nachbeben an die Erzieherinnen.
Alle 34 Kinder haben entweder ihren Vater, der am Arbeitsplatz ausharrte, oder ihre Mutter, die sie abholen wollte, oder ihre Großeltern, die die Flucht nicht schafften, verloren. Alle 34. Und von den 47 Kindern, die am Tag des Bebens nicht anwesend oder schon nach Hause gegangen waren, berichten die Erzieherinnen nicht, nachfragen verbietet sich.
Ortsausfahrt
Neben der Ortsausfahrt steht abends ein alter Mann am Straßenrand und schaut auf die Nummernschilder der wegfahrenden Autos. Jedesmal, wenn er eines entdeckt, das nicht aus der Präfektur stammte, reißt er ein handgeschriebenes Schild hoch wie ein Nummerngirl zwischen den Runden beim Boxkampf: "Danke fürs Helfen!"