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Syrische Flüchtlingskinder - eine Kindheit im Irrsinn

Syrische Flüchtlingskinder - eine Kindheit im Irrsinn
© Tanya Habjouqa
Fast 1,5 Millionen syrische Flüchtlinge leben im Libanon, über die Hälfte davon sind Kinder. Doch es gibt zwei Frauen, die es schaffen, ihnen ein wenig Kindsein zurückzugeben. Ein Projekt, das Sie mit unserer Aktion "Ein Schal Fürs Leben" unterstützen können.

Jeden Tag, meistens mittags, läuft Taraq* auf die Straße. Er springt über das Rinnsal, das sein Zeltcamp von der Hauptstraße trennt, springt über die Blumen und Kräuter, die die Flüchtlinge am Rand gepflanzt haben, stellt sich mitten auf den Asphalt und beginnt, laut mit einem unsichtbaren Mann zu streiten. Er schreit ihn an. Er droht ihm, ihn ins Gefängnis zu bringen. Er schlägt und tritt nach dem Unsichtbaren. Manchmal beruhigt er sich nach ein paar Minuten; manchmal kommt Maya, spricht ihn vorsichtig an und holt ihn zurück ins Camp. Dann ist Taraq wieder ein ganz normaler Junge, zehn Jahre alt, ein stilles Kind.

Taraq lebt im Libanon, etwa eineinhalb Autostunden nordöstlich der Hauptstadt Beirut, im Zeltcamp von Aanjar in der Bekaa-Ebene, nahe der syrischen Grenze. Sein Camp ist wie jedes andere hier: ein paar große, längliche Zelte, jedes für zwei bis drei Familien, zusammengehalten von Holzlatten und Autoreifen auf dem Dach, die Planen mit ausgeblichenem UN-Emblem oder zurechtgeschnitten aus Lebensmittelsäcken oder libanesischen Flaggen, befestigt mit Steinen. Dazwischen offene Feuerstellen, Satellitenschüsseln, ein paar Wellblech-Toiletten, gestiftet von einer NGO, die aussehen wie silberne Litfaßsäulen. Etwa tausend solcher Siedlungen gibt es allein in der Grenzregion.

Viele Kinder sind durch die Flucht traumatisiert, kapseln sich ab. Ihre überforderten Eltern können ihnen oft nicht helfen.
Viele Kinder sind durch die Flucht traumatisiert, kapseln sich ab. Ihre überforderten Eltern können ihnen oft nicht helfen.
© Tanya Habjouqa

Aber zwei Frauen machen in diesem Camp den Unterschied: Maya und ihre Cousine Rula. Die beiden haben aus dem Vorraum ihres Zeltes einen "Kinderraum" gemacht, einen "Child Friendly Space", wie die Hilfsorganisation Save the Children, die Maya und Rula bei ihrer Arbeit unterstützt, diese Räume nennt - eine Mischung aus Kindergarten und Schule, in dem die rund 70 Kinder im Camp für ein paar Stunden am Tag das sein können, was sie sind: Kinder. Nicht im Krieg, nicht auf der Flucht, nicht fremd, nicht arm, sondern Kinder, die spielen, singen, Vögel aus Papier ausschneiden, lesen und schreiben lernen. Kinder, die etwas zu tun haben. Die sich anfeuern, um bei der "Reise nach Rom" einen Stuhl zu ergattern.
Drei Millionen Syrer haben seit Beginn des Krieges ihre Heimat verlassen; die meisten, rund 1,5 Millionen, leben im Libanon. 53 Prozent sind Kinder. Und 80 Prozent dieser Kinder gehen nicht zur Schule. Manche, die noch in Syrien eingeschult wurden, haben inzwischen vergessen, wie sie ihren Namen schreiben.

"Anfangs trauten sich die Kinder nicht ohne ihre Mütter hierher", sagt Maya, 23. Dabei steht ihr Zelt, vor dessen Eingang jetzt drei dutzend Kinderschuhe sauber aufgereiht stehen und in dem Rula gerade Bauklötze und Holz-Steckspiele verteilt, so nah an den anderen Zelten, dass die Kinder nur ein paar Meter laufen müssen. Aber schon die kleine Trennung war zu viel. "Die Kinder sind durch die Flucht traumatisiert. Sie kapseln sich ab, viele lassen ihre Wut an anderen aus, prügeln sich." Rula und Maya setzen darauf, dass die Normalität in der Gruppe die Kinder heilt. Sie nehmen keines heraus, um sich einzeln darum zu kümmern, sie lassen ihnen einfach Zeit. "Die meisten finden sich nach ein paar Wochen hier ein", sagt Maya, "jedes Kind entdeckt irgendetwas, das ihm besonders Spaß macht. Manche singen gern oder basteln, manche hören gern zu, wenn wir ihnen vorlesen."

Sie sind keine Psychologinnen, sie wissen über Traumata das, was sie bei den Kindern beobachten. Beide waren Studentinnen; Maya studierte an einer islamischen Universität Englisch, sie wollte Lehrerin werden. Schon damals, als ihr Dorf im Westen Syriens von Rebellen und Armee monatelang belagert wurde und der Weg zur Schule traumatiwegen der vielen Heckenschützen zu gefährlich war, unterrichteten sie die Nachbarskinder in ihrer Küche. Als sie schließlich fortgingen, lag ihr Ort bereits drei Monate unter Dauerbeschuss. Sie warteten bis zu einer Feuerpause, dann rannten sie los, hundert Frauen und Kinder, Maya nahm nur einen kleinen Koffer mit und ihre Ausweise. Ihr Bruder sagte, Aanjar sei ein sicherer Ort, es sei ja nur für ein paar Monate. Er organisierte ein Auto, das sie über die Berge brachte.

Ein Jahr harrten Rula und Maya in ihrem Zelt aus, in derselben resignativen Traurigkeit, die hier viele ausstrahlen, eine Trauer, die sich aus Duldsamkeit, Wehmut und Langeweile zusammensetzt. Dann hielten sie es nicht mehr aus. Sie begannen, die Kinder einzuladen, mit ihnen zu spielen, sie zu unterrichten. Erklärten den Mitarbeitern von Save the Children, die sich gemeinsam mit anderen NGOs um die Flüchtlinge in den Camps kümmern, ihr Ziel: den Kindern einen Fluchtpunkt zu geben, einen festen Anker im großen Nichtstun, das die Familien in den Camps jeden Tag aushalten müssen. "Es gibt zu viel leere Zeit", sagt Maya. "Die Kinder spielen zwischen den Zelten, sie verlassen das Camp nur, um Wasser zu holen. Manchmal gehen ihre Eltern mit ihnen in einen Park. Oder sie machen ein Picknick unter einem Baum. Das sind die Höhepunkte."

* Die Namen aller Flüchtlinge wurden auf ihren Wunsch hin verändert und die Erwachsenen zudem unkenntlich fotografiert. Die Flüchtlinge fürchten um die Sicherheit ihrer in Syrien verbliebenen Verwandten.

Rula (links) ist eine der Leiterinnen des Kinderraums im Camp. Hier sollen die Kinder nach der Flucht stabilisiert werden. Manche brauchen Wochen, bis sie sich allein hierher trauen. Ansonsten gibt es für sie keine kindgerechte Beschäftigung im Camp. Viele arbeiten mit sechs Jahren bereits auf dem Feld.
Rula (links) ist eine der Leiterinnen des Kinderraums im Camp. Hier sollen die Kinder nach der Flucht stabilisiert werden. Manche brauchen Wochen, bis sie sich allein hierher trauen. Ansonsten gibt es für sie keine kindgerechte Beschäftigung im Camp. Viele arbeiten mit sechs Jahren bereits auf dem Feld.
© Tanya Habjouqa

Jeden Morgen gegen sechs Uhr gehen die Männer zu einer Verkehrsinsel und warten, dass ein Libanese ihnen für einen Tag einen Job gibt, in der Landwirtschaft, auf einer Baustelle. Manchmal warten sie den ganzen Tag, und niemand kommt. Auch viele der Kinder im Camp arbeiten, auf dem Feld, in den Treibhäusern, wo Erbsen, Tomaten, Gurken wachsen. Sie arbeiten für vier Dollar am Tag, ein kleiner Beitrag zur Pacht, die die Familien an den Besitzer des Landes, auf dem ihre Zelte stehen, zahlen: zwischen 300 und 400 Dollar, je näher ein Camp an der Hauptstraße liegt, desto höher ist die Pacht. Der Libanon ist ein teures Land. Schon die nach einem halben Jahr fällige Verlängerung ihrer Duldung, die pro Person 200 Dollar kostet, ist für viele unerschwinglich.

Die Flüchtlinge sind über das ganze Land verteilt; große Camps wie etwa in Jordanien, in denen es eine einigermaßen durch Hilfsorganisationen gesicherte Infrastruktur gibt, lässt die Regierung im Libanon nicht zu. Sie will nicht, dass sich die Syrer auf Dauer einrichten; sie fürchtet Kriminalität und steigende Feindseligkeiten mit den Libanesen, von denen viele selbst an der Armutsgrenze leben und mit den Syrern um Jobs konkurrieren. Erlaubt sind nur sogenannte "flüchtige Zeltsiedlungen" - schon die Zementböden, die einige in ihren Zelten haben, sind verboten, denn Zement bedeutet, dass man sich einrichtet.

Die Unterkünfte sind aus Planen, unbeheizt, sie bieten kaum Schutz vor dem Frost im Winter.
Die Unterkünfte sind aus Planen, unbeheizt, sie bieten kaum Schutz vor dem Frost im Winter.
© Tanya Habjouqa

Für die Flüchtlinge bedeutet Zement, dass sich im Winter, wenn es in der Bekaa-Ebene viel regnet und die Temperatur oft unter Null fällt, der Lehmboden unter ihren Füßen nicht auflöst, dass es zumindest ein bisschen Stabilität gibt, festen Grund, auf dem sie leben können. Niemand hier will bleiben. Sie alle wollen die Zeit bis zur Rückkehr überbrücken, auch wenn ihnen immer klarer wird, dass das viele Jahre dauern kann. Noch immer kommen jede Woche rund 12.000 Syrer über die Grenze, sie fliehen vor dem Krieg und der Gewalt der Terrormiliz "Islamischer Staat", die inzwischen auch in den Norden des Libanon vorgedrungen sind. Bis zum Ende des Jahres, so die Schätzungen, werden ein Drittel der Bevölkerung im Libanon Syrer sein. In 30 Prozent der rund 1.400 Orte, an denen die Syrer siedeln, stellen sie schon jetzt die Mehrheit.

"Für Kinder ist Flucht noch schwerer zu ertragen als für Erwachsene", sagt Maya. "Sie tun sich schwerer mit Veränderungen, sie verstehen nicht, warum sie gehen müssen, sie merken nur, dass sie von heute auf morgen aus allem, was ihnen Sicherheit gibt, herausgerissen sind. Sie hatten feste Häuser, die meisten Familien gehörten in Syrien zur Mittelschicht, und hier schlafen sie auf Staub. Aber Kinder passen sich auch schneller an. Allerdings: Wenn sie sich hier ausgegrenzt fühlen, wenn sich die libanesischen Kinder über sie lustig machen; wenn sie die Ratten sehen; wenn sie spüren, unter welchem Druck die Eltern stehen, dann fällt ihnen alles wieder ein, und dann ziehen sie sich zurück." Neulich lief ein streunender Hund durchs Camp und erschreckte die Kinder - "sie sind eine Woche nach Sonnenuntergang nicht mehr aus ihren Zelten gekommen".

Maram, 30, hat ein Zelt mit Zementboden, sie hat ein richtiges Waschbecken, über dem ihr Mann einen Wasserkanister aufgehängt hat. Sie hat ihr Zelt mit schimmernden Stoffen dekoriert und mit künstlichen Blumen. Kein Staubkorn liegt auf der bunten Bastmatte im Wohnzimmer. Wenn Maram morgens um fünf Uhr aufsteht, dann ist ihre Hauptbeschäftigung das Saubermachen. Wenn man ihr sagt, dass ihr Zelt sehr schön ist, dann lacht sie erst und scherzt, es sei ein Fünf-Sterne-Zelt, ihr Mann sei ein Bastler und Tüftler, er habe das alles gebaut. Aber dann beginnt sie zu weinen, sagt, es tue ihr weh, dies hier als ihr Zuhause zu sehen, auch noch Anerkennung dafür zu bekommen, wenn sie daran denke, wie ihr Zuhause war. "Mein Mann hat hart gearbeitet, er hatte Lastwagen, hatte immer Aufträge. Wir haben unser Haus ausgebaut, ich habe es geliebt, es zu dekorieren, wir hatten schöne Möbel, es waren die Früchte unserer Arbeit."

Maram kommt aus derselben Gegend wie Maya und die meisten anderen im Camp - fast immer siedeln jene zusammen, die sich aus ihren syrischen Heimatdörfern kennen. Sie erlebte, wie eine Bekannte, die im neunten Monat schwanger war, wegen der Straßensperren nicht ins Krankenhaus kam und starb. Auch Maram war schwanger vor zwei Jahren, und sie hatte Angst, dass auch sie bei der Geburt in ihrem Haus gefangen wäre. Sie nahm ihre Dokumente und ihre beiden Kinder, die damals sechs und drei waren, und ging los, erst an den Olivenbäumen entlang, dann nahmen sie einen Bus, es dauerte nur vier Stunden, dann waren sie im Libanon. "Unser Haus wurde danach geplündert, dann abgebrannt", sagt sie.

Am schlimmsten ist die Situation für Lina, ihre achtjährige Tochter, die ein Stück abseits sitzt, während ihr kleiner Bruder die ganze Zeit auf Marams Schoß rangelt. Lina sprach nach ihrer Ankunft kaum mehr. Nachts weinte sie. Volle zwei Monate hat Maram sie jeden Tag in den "Kinderraum" begleitet. Ganz langsam wurde es besser. Sie begann zu zeichnen, Bilder aus ihrer Erinnerung an Syrien: die Apfelbäume in ihrem Garten, einen Jahrmarkt.

BRIGITTE-Autorin Meike Dinklage im Gespräch mit Maram und ihren Kindern. Die Familie kam vor zwei Jahren ins Camp, damals war Maram mit ihrem jüngsten Sohn schwanger. Sie floh aus Angst, es bei der Niederkunft wegen der Heckenschützen in ihrem Heimatdorf nicht in die Klinik zu schaffen
BRIGITTE-Autorin Meike Dinklage im Gespräch mit Maram und ihren Kindern. Die Familie kam vor zwei Jahren ins Camp, damals war Maram mit ihrem jüngsten Sohn schwanger. Sie floh aus Angst, es bei der Niederkunft wegen der Heckenschützen in ihrem Heimatdorf nicht in die Klinik zu schaffen
© Tanya Habjouqa

Ein Jahr ging Lina auf eine libanesische Grundschule, dann reichte das Geld der Eltern nicht mehr für die Schulgebühren. "Lina ist sehr klug", sagt ihre Mutter. "Sie sieht etwas und kann es sofort imitieren oder nachbauen. Das ist mein großer Wunsch für sie: dass sie eines Tages etwas lernen kann."

Einmal in der Woche, donnerstags um halb zwölf, kommen drei junge Frauen in die Siedlung. Sie haben ein Flipboard dabei, das sie in einem Zelt aufbauen, das als eine Art Gemeinschaftszelt dient. Die Frauen sind Mitarbeiterinnen von Save the Children, ihr Thema sind Erziehungsfragen, doch eigentlich geht es darum, dass sich die Mütter ihre Probleme von der Seele reden können. Etwa 20 Frauen sind gekommen, sie sitzen auf Decken am Boden, ihre kleinsten Kinder turnen um sie herum. Die Leiterin des Kurses schreibt die Spielregeln an das Board: Wir hören uns zu. Wir lassen uns ausreden. Jede Meinung ist in Ordnung. "Was unterscheidet einen guten Umgang mit unseren Kindern von einem schlechten?", fragt sie. Eine Mutter sagt: "Wir leben unter so viel Druck.

"Ich konnte ihnen nicht helfen, ich konnte mir selbst nicht helfen, ich konnte nur noch weinen"

Wir können nicht alles mit den Kindern diskutieren. Wenn ich sage, ihr bleibt hier, und sie gehen trotzdem weg, dann muss ich sie schlagen, dann tun sie es nicht wieder." - "Was würdest du tun, wenn du nicht schlagen könntest?", fragt die Kursleiterin. Die Mutter weiß es nicht. "Rede ruhig mit ihnen", sagt die Leiterin, "du musst ihnen erklären, warum sie nicht gehen sollen. Sie müssen deine Gründe verstehen können." Alma, 27, hört genau zu. Anfangs, nach ihrer Ankunft im Lager vor zwei Jahren, konnte sie sich nicht mehr gegen ihre drei Kinder durchsetzen. "Ich konnte ihnen nicht helfen, ich konnte mir selbst nicht helfen, ich konnte nur noch weinen", sagt sie. "Ich konnte sie nicht mehr kontrollieren, mein Sohn ist elf, er fühlte sich hier von allem bedroht. Er schlug mich, und ich konnte mich nicht wehren." Heute sei es leichter für sie, seit die Kinder in Mayas Klasse gehen, "weil ich dann weiß, da kommen sie für ein paar Stunden auf andere Gedanken".

Maya sagt, dass sie, als die Aufstände in Syrien begannen, mitdemonstriert habe. "Wir waren Studenten, wir hofften auf mehr Freiheit", sagt sie. "Es ging um mehr Bürgerrechte, um ein freies Internet. Heute wissen wir, wohin es geführt hat. Wir haben unsere Zukunft verloren." Der Kinderraum sei das kleine Stück Zukunft, dass sie den Kindern hier zurückgeben kann. "Ich will, dass sie so gut vorbereitet sind, dass sie irgendwann hier auf eine normale Schule gehen können. Dass sie als normale Kinder wahrgenommen werden. Ich will ihr Leben auf diesen Weg bringen." Vor ein paar Tagen, als Maram wieder davon sprach, dass ihr Leben hier nur ein Übergang sei, sagte Lina zu ihr: Du lügst.

Ein Schal fürs Leben: Helfen Sie syrischen Flüchtlingskindern



Unterstützt das Projekt von Maya und Rula und macht mit bei unserer Spenden-Aktion "Schal fürs Leben". Alle Infos darüber finden ihr hier.

Text: Meike Dinklage Ein Artikel aus BRIGITTE Heft 23/2014

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