Anzeige
Anzeige

Magersucht: Kampf um jedes Kilo

Frau leidett an Anorexie
© Photographee.eu / Shutterstock
Nicole hungerte so lange, bis sie es nicht mehr aus dem Bett schaffte und selbst ihren Job kündigen musste. Heute hat sie wieder Normalgewicht. Hier erzählt die 25-Jährige ihre Geschichte.

Begonnen hat meine Magersucht vor sechs Jahren. Damals war ich noch übergewichtig. Mit Sport und hartnäckigem Kalorienzählen nahm ich ab - über anderthalb Jahre. Als ich dann meinen jetzigen Mann kennen lernte, hatte ich Normalgewicht. Eigentlich war mein Glück perfekt - doch mit den Diäten konnte ich nicht aufhören. Jede Woche nahm ich weiter ab. Setzte mir immer wieder ein neues Zielgewicht, das ich unbedingt erreichen wollte. Schließlich aß ich nur noch Gemüse, etwas Obst und Milchprodukte in light Form. Meinen Bauch fand ich immer noch zu dick, deshalb erhöhte ich mein tägliches Sportpensum: auf vier Stunden. Irgendwann streikte mein Körper. Nachts, wenn ich im Bett lag, konnte ich vor Schmerzen nicht schlafen. Mein Herz raste wie wild. Das war besonders schlimm. Dazu kam die Angst: Wache ich morgen wieder auf, wenn ich jetzt einschlafe?

46 Kilo bei einer Größe von 1,76 Metern

Waage Magersucht
© VGstockstudio / Shutterstock

Mein Mann redete auf mich ein, denn mit jeder weiteren Woche ging es mir schlechter. Aber ich blockte ab. Ich wollte glauben, dass alles gut sei. Manchmal kam ich dennoch kurz zur Einsicht, doch die hielt nicht lang. Wenn ich am nächsten Tag auf der Waage stand und dieses Glücksgefühl hatte, weil ich wieder etwas abgenommen hatte, war für mich der Tag gerettet. Schließlich kündigte ich sogar meine Arbeit. Ich schaffte es einfach nicht mehr hinzugehen - weder körperlich noch psychisch. Wie auch? Schon der Weg zum Supermarkt eine Straße weiter war kaum noch zu bewältigen, so schwach war ich. An meinem Tiefpunkt wog ich nur noch 46 Kilo und das bei einer Größe von 1,76 Metern. Ich lag wochenlang im Bett, wollte nur noch schlafen. Nichts mehr mitbekommen. Zu dieser Zeit bekam ich viel Besuch. Jeder kümmerte sich um mich. Die ganze Aufmerksamkeit hat mir gefallen.

Auf der nächsten Seite: Der Tag, an dem sich alles änderte

Ich würde sterben, wenn sich nichts änderte

Dann kam der Tag, der alles veränderte. Als ich an diesem Morgen in den Spiegel schaute, sah ich mich mit ganz anderen Augen. Ich sah nicht mehr die junge, schlanke Frau, die ich vorher immer gesehen hatte. Nein, ich sah eine alte Frau, deren Gesicht aussah, als sei sie schon Mitte 50, deren Haare strohig waren und teilweise ausgefallen. Ich fing an zu weinen. Mir war klar geworden, dass ich sterben würde, wenn ich nichts änderte. Mein Mann war erleichtert. Er half mir, wo er nur konnte. Noch am selben Tag bestellten wir mehrere Packungen Flüssignahrung. Ich trank drei Stück davon am Tag. Das fiel mir leichter als essen, da ich nicht merkte, wie viele Kalorien ich zu mir nahm. Nach einigen Wochen versuchte ich das erste Mal wieder Abendbrot zu essen. Ich wollte mit einer Scheibe Toast anfangen. Der Toast landete schließlich an der Wand. Mein Hassgefühl auf das Essen war einfach noch zu groß.

Drei Lebensmittel am Tag

Trotzdem zwang ich mich jeden Tag aufs Neue, etwas zu essen - bis ich es schließlich schaffte, drei Mahlzeiten am Tag runter zu bekommen. Jede Woche kam eines der vorher "verbotenen" Lebensmittel dazu: Süßigkeiten und Knabbereien, Brötchen, Bananen und Milchprodukte mit mehr als 0,3% Fett. Das alles wieder in den Speiseplan aufzunehmen, war das schlimmste für mich. Oft kaufte ich es - und warf es dann doch in den Müll. Bei jedem Kilo mehr ging es mir nicht gut. Doch ich wusste, dass es richtig war. Dass ich weiterkämpfen musste.

Verzweifelte Frau hinter einer Waage
© Tero Vesalainen / Shutterstock

Dann kam der Rückschlag. Mein Mann und ich hatten uns schon lange ein Kind gewünscht. Doch meine Ärztin erklärte mir, dass ich wegen der Magersucht vielleicht nie schwanger werden könnte. Ich war am Ende. Warum sollte ich dann überhaupt noch zunehmen? Ich geriet wieder in meine alten Muster, wollte nichts mehr essen. Ich habe geschrien und geweint. Tagelang, wochenlang. Mein Mann hat mich getröstet, er nahm mich in den Arm, war immer für mich da. Ein Jahr habe ich gebraucht, um wieder ein normales Gewicht zu erreichen. Ich habe wieder um jedes Kilo gekämpft. Dann ging mein größter Wunsch in Erfüllung: Ich wurde schwanger.

Auf der nächsten Seite lest ihr, wo für Nicole die Ursachen ihrer Magersucht liegen

Traumatische Erlebnisse in der Kindheit

Oft habe ich mich gefragt, warum ich überhaupt in diesen Teufelskreis hineingeraten bin. Und ich glaube, die Ursachen liegen in meiner Kindheit. Als ich klein war, hat mich meine Mutter voll gestopft mit Essen, manchmal so lange, bis ich alles erbrechen musste. Unsere Beziehung war überhaupt schwierig. Eigentlich wollte sie nie Kinder haben. Doch dann kam ich, wurde Papas Liebling. Das machte sie furchtbar eifersüchtig - und das ließ sie mich spüren. Niemals habe ich von ihr gehört, dass sie mich lieb hat, nie hat sie sich bei mir entschuldigt. Einmal rannte sie hinter mir her und schlug so fest zu, dass ich blutete. Mein Vater hat einfach weggesehen. Das alles hat wohl Spuren hinterlassen. Vielleicht würde eine Therapie helfen, auch einiges aus meiner Kindheit aufzuarbeiten. Aber dazu bin ich noch nicht bereit. Ich kann mir nicht vorstellen, mich einem fremden Menschen gegenüber zu öffnen und mich ihm anzuvertrauen. Das war auch der Grund, warum ich mich entschlossen habe, ohne therapeutische Hilfe gegen meine Magersucht zu kämpfen.

Angst vor Kontrollverlust

Obwohl ich nun längst wieder Normalgewicht habe, ist die Angst immer noch da. Die Angst, die Kontrolle zu verlieren und wieder so dick wie früher zu werden. Sobald ich spüre, dass es wieder abwärts geht, versuche ich mit meinem Mann darüber zu reden. Wir überlegen uns dann zusammen, was diesmal der Auslöser war und wie ich das Problem bewältigen kann, ohne wieder hungern zu müssen. Mein Mann gibt mir Halt und Kraft. Ohne ihn hätte ich es bestimmt nicht geschafft.

Auf der nächsten Seite: Welche Folgen hat Magersucht für den Körper und wie kann eine Behandlung aussehen?

Infos und Hilfe:

FAKTEN: In Deutschland leiden Schätzungen zufolge mindestens 220.000 Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren an Magersucht. Die Betroffenen versuchen durch stark verminderte Ernährungszufuhr, oft verbunden mit übermäßiger sportlicher Betätigung, abzunehmen. Eine Krankheitseinsicht fehlt, Magersüchtige nehmen sich selbst sogar im stark abgemagerten Zustand noch als "zu dick" wahr. Nur rund die Hälfte der Patienten wird vollständig geheilt, bei vielen wird die Krankheit chronisch oder endet in 10 bis 15 Prozent aller Fälle sogar tödlich.

Deprimierte Frau
© Photographee.eu / Shutterstock

FOLGEN FÜR KÖRPER UND SEELE: Magersucht macht krank - körperlich und psychisch. Leber und Niere können durch den Ernährungsmangel dauerhaft geschädigt werden. Das Gehirn kann schrumpfen, was Konzentrationsschwächen und Verwirrung zur Folge hat. Es kommt zu Herzrhythmusstörungen, die einen Herzstillstand nach sich ziehen können. Knochen und Zähne werden angegriffen, die Muskeln schwinden. Bei Mädchen und Frauen wird der Hormonhaushalt gestört. Das führt zum Ausbleiben der Menstruation bis hin zur Unfruchtbarkeit. Auch psychisch leiden Magersüchtige. Häufig gehen Zwangserkrankungen und Depressionen mit der Krankheit einher - und enden schlimmstenfalls im Selbstmord. Dazu kommen der permanente Stress, unter den sich Magersüchtige setzen, und die Isolation. Denn häufig brechen die Kranken, aus Angst entdeckt zu werden, all ihre sozialen Kontakte ab.

FRÜHZEITIGE BEHANDLUNG:

Gegen Magersucht gibt es keine Medizin und auch kein Allheilmittel. Dafür sind die Auslöser zu unterschiedlich. Je früher aber mit einer Behandlung angefangen wird, desto größer sind die Heilungschancen. Der erste Schritt - und häufig auch der schwierigste - ist, sich die Krankheit einzugestehen. Sich klarzumachen, dass man damit die eigene Gesundheit und das eigene Leben riskiert. Und sich vor Augen zu führen, dass Magersucht ein Anzeichen für persönliche Probleme ist - und nicht deren Lösung. Eine erste Anlaufstelle ist der Hausarzt, er kann auch bei der Suche nach einem geeigneten Therapeuten helfen oder einen Klinikaufenthalt vorbereiten. Angehörige können in Selbsthilfegruppen Rat und Unterstützung finden.

NICHT WEGSCHAUEN!

Deswegen: Wenn du merkst, dass eine Freundin in kurzer Zeit sehr stark abgenommen hat und immer noch nicht zufrieden mit ihrem Gewicht ist, sprich sie darauf an! Und ermutige sie, Hilfe anzunehmen.

BERATUNG: Egal ob du selbst unter einer Essstörung leidest oder Hilfe für eine Freundin brauchst - über diese (gebührenpflichtige) Telefonnummer (02 21) 89 20 31 von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung findest du Ansprechpartner.

Auf der nächsten Seite findet ihr nützliche Links und Buchtipps

Im Internet:

Informationen zur Magersucht von Betroffenen für Betroffene mit Klinikberichten und Fragen zur Therapie: www.magersucht-online.de

Sehr informative Seite der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit vielen Hilfs- und Beratungsangeboten: www.bzga-essstoerungen.de

Informationen, Hilfe und Kommunikationsangebote (Forum, Mailing-Liste, Chat) für Betroffene und Angehörige: www.hungrig-online.de

Bücher:

Sabine Herold: Leicht wie ein Schmetterling. Evas Weg aus der Magersucht; Francke Buchhandlung (2007); 9,95 Euro.

Annemarie Rettenwander: Magersucht - Einsichten und Auswege. Was (ehemals) betroffene Frauen als hilfreich empfinden; Verlag Köster (2007); 19,80 Euro.

Lena S.: Auf Stelzen gehen: Geschichte einer Magersucht; Balance Buch + Medien (2007); 14,90 Euro.

Empfehlung von Nicole: Anita Johnston: Die Frau, die im Mondlicht aß: Ess-Störungen überwinden durch die Weisheit uralter Märchen und Mythen; Droemer/Knaur (2007); 8,95 Euro.

Auf der nächsten Seite findet ihr ein Interview mit einer Psychologischen Psychotherapeuten zum Thema Magersucht

"Ein unstillbarer Hunger nach Liebe und Anerkennung"

Therapeutische Hilfe
© mirtmirt / Shutterstock

Waltraud Schindler-Friedrichs ist niedergelassene Psychologische Psychotherapeutin und Psychoanalytikerin. Im Bym.de-Interview erzählt sie, wie wichtig eine Therapie für Magersuchtpatienten ist, was die Ursachen für die Krankheit sein können - und warum man sich nicht glücklicher fühlen wird, wenn man sein Idealgewicht erreicht hat.

BYM.de: Was sind die gängigsten Ursachen für Magersucht?

Schindler-Friedrichs: Die Ursachen für den Ausbruch einer Magersucht sind sehr vielfältig. In jedem Fall liegen schwerwiegende seelische Konflikte zugrunde. In dem Artikel wurde eine problematische Mutterbeziehung angesprochen, die sicherlich verdrängte Hassgefühle und einen Mangel an Selbstwertgefühl zurückgelassen hat. Fehlendes Urvertrauen ist die Folge: Magersucht-Patienten können sich selbst nicht akzeptieren und leiden an einem unstillbaren Hunger nach Liebe und Anerkennung.

BYM.de: Ab wann wird das "täglich auf der Waage stehen" gefährlich?

Schindler-Friedrichs: Der Ursprung der meisten Magersucht-Entwicklungen liegt in der Pubertät. Das zunächst harmlose Experimentieren mit Diäten setzt eine Entwicklung in Gang, die oft nicht mehr zu stoppen ist. Da man sich nicht akzeptieren kann, arbeitet man an einem "idealen Körperschema" und hofft so, endlich ein Selbstvertrauen zu gewinnen. Dabei spielen Triumphgefühle eine Rolle, schließlich schafft man etwas, was andere nicht schaffen. In Wirklichkeit fühlen sich Magersucht-Patienten aber lustlos und deprimiert. Es ist eine Illusion, dass man sich glücklicher fühlen würde, wenn man das "Idealgewicht" erreicht hat.

BYM.de: Wie können Freunde und Angehörige helfen?

Schindler-Friedrichs: Man sollte unbedingt versuchen, darüber zu sprechen und eine Therapie zu empfehlen. Aber dies ist ein schwieriger Punkt: Die Angst, sich einem Fremden mitzuteilen und Zugang zu seinen beängstigenden Gefühlen zu bekommen, ist riesengroß. Ich finde es problematisch, den Partner als "Retter" auszuwählen. Möglicherweise zahlt das Paar einen großen Preis, denn eine Liebesbeziehung sollte Gegenseitigkeit beinhalten.

BYM.de: Kann eine Magersucht auch ohne eine Therapie überwunden werden?

Schindler-Friedrichs: Ich habe schon erlebt, dass Frauen versucht haben, ihre Magersucht über viele Jahre hinweg selbst in den Griff zu bekommen. Oft aber sind schwere Konzentrationsstörungen und Depressionen die Folge, so dass der Beruf aufgegeben werden muss. Danach kommen die Frauen erst zur Psychotherapie - häufig ist sogar ein Klinikaufenthalt vonnöten. Die einzige Möglichkeit besteht dann in der Konfliktbearbeitung und der Einsicht, dass sie irgendwie "gescheitert" sind. Diese Bearbeitung tut zwar weh, aber schafft auch neue Hoffnungen und ein neues Selbstwertgefühl. Ich glaube nicht, dass man das Problem mit ein paar Packungen Astronautennahrung lösen kann: Der eigentliche innerseelische Konflikt bleibt bestehen.

BYM.de: Wie hilfreich sind Selbsthilfegruppen?

Schindler-Friedrichs: Selbsthilfegruppen sind sicherlich hilfreich. Oft trauen sich die Patienten unter Gleichgesinnten erstmals ehrlich über ihr Problem zu sprechen. Die sozialen Kontakte wirken ermutigend und verhindern eine Fixierung auf den eigenen Partner, der damit meistens überfordert ist. In jedem Fall sollte aber eine längerfristige Psychotherapie folgen.

BYM.de: Ist man überhaupt irgendwann geheilt?

Schindler-Friedrichs: Die Problematik der Sucht und häufig auch der Blick zur Waage bleiben ein Leben lang. In dem Artikel klingt durch, welche große Angst das Mädchen vor dem Aufdecken ihrer innerseelischen Konflikte hat. Die Heilungschancen hängen jedoch gerade von dem Willen und ungeheuren Einsatz, sein Leben verändern zu wollen, ab. Jedes Mädchen möchte schlank und schön sein. Was aber, wenn der Körper diesem Selbstbild nicht folgt?

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel