image
Julia Karnick, 42, hat in den letzten Wochen mit Verve im Freundeskreis über das Thema geredet - und unter anderem sechs Erkenntnisse gewonnen
Allein deshalb, weil man wie sie ein Y-Chromosom und einen Penis hat. Vermutlich ist es die gleiche Art von Männern, die es lustig finden, Angela Merkel "Mutti" zu nennen. Männer, die sagen: "Ah, Sie arbeiten bei BRIGITTE, da gibt's ja bestimmt viele schöne Frauen, können Sie sich da überhaupt konzentrieren?" Büroleiter, die zur Interviewpartnerin sagen: "Na, kann ich Sie denn mit Herrn Raether allein lassen?" und schelmisch in meine Richtung zwinkern, bevor sie die Tür schließen.
Das ist nicht im engeren Sinne schlimm und macht mich nicht zum Sexismus-Opfer. Im Gegenteil, es macht mich zum passiven Mittäter. Denn habe ich jemals gesagt: "Also bitte, wie reden Sie denn?!" Nein, denn es ist ja nie so richtig ernst, der Ton bleibt scherzhaft. Und es fällt mir schwer, eine bis dahin ganz gute Stimmung zu verderben, indem ich mich "prüde", "puritanisch", "verklemmt" oder "unentspannt" verhalte. Das sind gängige Vorwurfsvokabeln, die in der Debatte immer wieder fallen: Man solle das alles nicht so ernst nehmen, wer souverän sei, könne so was an sich abperlen lassen oder mit einem Spruch abbiegen, und so weiter.
Mich kotzt aber schon an, dass ich mich überhaupt damit beschäftigen muss. Ich rede mit guten Freunden über Freundinnen und Sex und bei BRIGITTE auch mit vielen Kolleginnen. Aber warum soll ich mich in der neutralen Öffentlichkeit oder anderswo im Beruf mit derart privatem Zeug wie der Attraktivität anderer Frauen und meinen erotischen Vorlieben beschäftigen?
Ich muss lachen, wenn ich höre, da gebe es doch so viele Zwischentöne, und wohin kämen wir denn, wenn wir alles Sexuelle verteufeln, man solle sich doch locker machen. Locker, Zwischentöne, Sex? Darum geht es doch gar nicht. Auch das, was ich als Mann erlebe, hat ausschließlich mit Macht zu tun. Männer reden so und versuchen, andere Männer mit in den Mist reinzuziehen, um sich gegenseitig zu versichern: In diesem Spiel bestimmen wir die Regeln. Wir entscheiden, ob wir an einer Frau erst ihren Körper oder erst was anderes kommentieren. Das hat nichts mit Flirten, Schäkern oder Hirngespinsten vom im Grunde romantischen Macho zu tun: Wenn Männer anderen Männern ihren Sexismus aufnötigen, geht es dabei nur darum, die brüchigen Unterdrückungsstrukturen zu reparieren.
Natürlich bin ich nicht der Einzige, der davon genervt ist. Wir sind aber eben eine nicht Sprüche klopfende, nicht Geschlechtsmerkmale kommentierende, kurz: eine schweigende Mehrheit. Und es spricht nicht für mich, dass mir das jetzt erst klar wird: Mein Stillschweigen muss anderen immer zustimmend erschienen sein.
Es gibt Themen, die kommen wie ein Gewitter über das Land. Für eine begrenzte Zeit fluten sie die Talkshows, Zeitungen, Blogs und die Kantinen- und Kneipengespräche der Republik. Irgendwann hat sich die allgemeine Erregung entladen, das Spektakel ist vorbei - und alle machen weiter wie vorher. Später sagt man: "Stimmt ja, damals hat alle Welt über Bettina Wulff/Doping/den Kachelmann-Prozess geredet!" Auch das Thema Sexismus ist wie ein Gewitter ins öffentliche Bewusstsein eingeschlagen, nachdem im "Stern" ein Porträt über den FDP-Spitzenkandidaten Rainer Brüderle erschien, in dem die Autorin dem Politiker vorwarf, sich ihr gegenüber anzüglich verhalten zu haben. In Talkshows, Zeitungen, Blogs, Kantinen- und Kneipengesprächen wurde diskutiert. So weit, so erwartbar.
Doch dann nahm die Debatte einen Verlauf, wie ihn zuvor kaum je ein Gewitter-Thema ausgelöst hat: Statt sich bei nächstbester Gelegenheit dem nächstbesten Aufreger zuzuwenden, begannen viele Menschen, ernsthaft und offen miteinander zu reden - zu Hause, beim Abendessen, auf dem Sofa. Über sich selbst. Über die Frage, was Sexismus eigentlich genau ist: offensichtlich nicht für jeden und jede das Gleiche. Über die eigenen Erfahrungen, vor allem im Job. Wenn du dich auf einer Privatparty blöd angemacht, belästigt oder beschämt fühlst von einem Idioten, kannst du dich umdrehen und gehen. Wenn der Idiot dein Chef ist, dein Kunde oder sonst irgendwer, auf dessen Wohlwollen du angewiesen bist, dann ist das nicht so einfach.
Ich habe mit Freundinnen und Freunden, Kollegen und Kolleginnen, Älteren und Jüngeren geredet, mit meinem Mann diskutiert und mit meinem 14jährigen Sohn: "Hast du so etwas auch schon mal erlebt?" - "Das kann man doch nicht verallgemeinern!" - "Dürfen wir euch gar keine Komplimente mehr machen?" - "Warum sind manche Männer so?" - "Sind Frauen nicht etwas zu empfindlich?
Sind wir Frauen zu empfindlich? Oft lässt sich diese Frage ganz einfach beantwortet: Nein! Nein! Nein! Sind wir nicht! Einer Frau - zumal wenn sie aus beruflichen Gründen das Gespräch sucht - erst in den Ausschnitt zu glotzen, dann ein schlüpfriges Kompliment zu machen und am Ende einen Kuss aufzuzwingen: geht nicht. Oder: Eine Kollegin sollte ein Interview mit einem berühmten Schauspieler führen. Als sie ihm gegenübersaß, musterte er sie und sagte: "Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie schlafen mit mir, und dann erzähle ich Ihnen alles, was Sie wollen." Geht gar nicht!
Meine eigenen Erfahrungen mit dem Phänomen Sexismus haben mich so nachhaltig verstört, dass sie meinen journalistischen Berufsweg entscheidend beeinflussten - wie mir allerdings erst in der Rückschau klar wurde. Es waren keine Gesprächspartner, die mich schockten, sondern Kollegen: Ich war 25, als ich Mitte der Neunziger die Journalistenschule besuchte. Mein vorletztes Praktikum absolvierte ich in einer Redaktion, in der es nur wenige Redakteurinnen gab und ausschließlich Männer das Sagen hatten. Die liebten es, in großer Runde derbe Witze zu reißen, meist über Frauen. Die meisten Mitarbeiterinnen lachten mit, wenn auch leicht verkrampft. Das waren die, die beliebt waren, weil sie als nicht zimperlich galten. Von den wenigen, die nicht lachten, hieß es, sie seien verbitterte Emanzen. Ihre Beiträge in Redaktionskonferenzen wurden so lange ignoriert, bis sie tatsächlich verbittert aussahen. Es gab eine Frauenbeauftragte, die noch weniger ernst genommen wurde als der Pizzabote, der manchmal kam, wenn Überstunden gemacht wurden. Zur Frauenbeauftragten gehörte ein Briefkasten, in dem Mitarbeiterinnen anonyme Beschwerdebriefe hinterlassen konnten. Das tat aber keine, weil es, wie ich erfuhr, sowieso nichts nützte, sich zu beschweren. Wenn die jüngeren Redakteure sich mal wieder in einem Büro versammelt hatten, um die körperlichen Vorzüge der neuesten Praktikantinnen zu vergleichen, hielten sie es nicht einmal für nötig, die Tür zum Flur zu schließen. Ich hörte und staunte. Und schwieg. Und fühlte mich an manchem Abend, wenn ich ging, so beschmutzt, als käme ich aus einem Schweinestall.
Gleich danach machte ich mein letztes Praktikum, bei der BRIGITTE. Im Kontrast zur MachoHölle, die ich zuvor erlebt hatte, kam es mir dort so himmlisch vor, dass ich blieb. Inzwischen weiß ich längst, dass auch eine Frauenzeitungsredaktion kein Paradies ist. Auch zwischen Kolleginnen gibt es Gehässigkeiten, Intrigen, Konkurrenzkämpfe. Was es nicht gibt, jedenfalls habe ich es nie erlebt: dass eine die andere zu unterwerfen versucht, indem sie sie auf Titten und Arsch reduziert. Wenn wir einander bekriegen, dann als ganze Person: mit Leib, Seele und Verstand. Das ist auch nicht schön. Aber würdig. Und für die Männer, die es immer noch nicht verstanden haben: Wir sind Kolleginnen, Geschäfts- und Gesprächspartnerinnen, die am Konferenztisch ernst und nicht von hinten genommen werden wollen.
"Frauen, wehrt euch!", forderte die Schriftstellerin Sibylle Berg in ihrer Kolumne auf "Spiegel Online": "Bitten Sie nicht um Einsicht und Anerkennung, bitten Sie nicht um Gleichberechtigung, um die Gleichheit aller Menschen, um Respekt und all die schönen Dinge - nehmen Sie sich all das!" Klingt einleuchtend, ist aber verdammt schwer, wenn man abhängig ist von dem, gegen dessen Zudringlichkeiten und Unverschämtheiten man sich wehren muss. Vielleicht, hoffentlich, ändert sich das nun, wo Frauen begonnen haben zu erzählen und viele Männer gewillt sind zuzuhören - oft bestürzt über das, was ein Teil ihrer Geschlechtsgenossen uns Frauen zumuten.
Das ist der einfache Teil der Debatte. Schwieriger wird es, wenn man der "Geht gar nicht!"-Zone den Rücken kehrt und jene Grauzone betritt, in der es keine Eindeutigkeiten gibt, sondern Interpretationsmöglichkeiten. In dieser Zone geht es nicht um obszöne Kommentare, aufgedrängte Berührungen und unmoralische Angebote, also um sexuelle Belästigung. In dieser Zone geht es um den älteren Mitarbeiter, der die jüngere Kollegin Morgen für Morgen mit dem Satz begrüßt: "Guten Morgen, schöne Frau!" Ist das charmant - oder herablassend? Es geht um den Chef, der die Vier-AugenBesprechung beschließt mit den Worten: "Haben Sie Zeit, die Sache heute Abend zu klären, vielleicht bei einem Glas Wein?" Ist das eine Einladung - oder eine Nötigung? Es geht um den Oberarzt, der sich neben der Assistenzärztin über das EKG beugt und feststellt: "Sie riechen aber gut!" Ist das ein Flirt - oder eine Zudringlichkeit? Es geht um den Professor, der seiner Mitarbeiterin auf der Weihnachtfeier nach fünf Bier zusäuselt: "Sie sind nicht nur sehr schlau, sondern auch sehr attraktiv." Ist das ein Kompliment - oder eine Unverschämtheit?
Es geht um die Frage: Ist jedes männliche Verhalten, das von Frauen als unangenehm empfunden werden könnte, automatisch der Beweis einer sexistischen Haltung? Oder ist es normal, dass dort, wo Männer und Frauen zusammenarbeiten, gelegentlich das uralte Spiel gespielt wird, mit allem, was dazugehört: mit Volltreffern, Niederlagen, Angriff, Fouls, Schwalben und Abwehr?
Diese Frage ist es, über die ich in den letzten Wochen mit allen möglichen Menschen endlos diskutiert habe - ohne dass wir uns auf eine bessere Antwort hätten einigen können als diese: Kommt ganz drauf an. . .! Nämlich darauf, wie respektvoll der Umgang ist. Darauf, was eine Frau schon erlebt hat. Darauf, ob eine Bemerkung von oben herab kommt oder eingebettet ist in ein Verhalten, das schon länger signalisiert: Ich schätze Sie in jeder Hinsicht.
Die Bloggerin Meike Lobo formulierte die Lage so: "Menschen interagieren miteinander. Dabei geht manchmal etwas schief. Wenn es schiefgeht, ist das nicht zwangsläufig männlichem Dominanzverhalten geschuldet, sondern manchmal vielleicht auch einfach nur unglücklicher menschlicher Kommunikation." Tun wir also nicht so, als gäbe es in der Grauzone eindeutige Antworten auf die Frage, was erlaubt ist und was nicht.
Erkenntnisse
1. Erkenntnis:
Es führt zu nichts, Sexismus durch Sexismus bekämpfen zu wollen. Zu unterstellen, alle Männer seien dauerund machtgeile Frauenunterdrücker, ist ebenso diskriminierend und realitätsfern wie die Behauptung, all jene Frauen, die von Erfahrungen mit Sexismus berichten, seien wahlweise willige Schlampen, hilflose Opfer oder humorlose, hyperempfindliche Amazonen: Wo immer Menschen ihr eigenes oder das andere Geschlecht auf einfache Wahrheiten reduzieren, wird keine echte Kommunikation stattfinden.
2. Erkenntnis:
Die allermeisten Männer interessieren sich für das, was Frauen ihnen zu sagen haben - zumindest dann, wenn man bereit ist, sie auch ihre Sicht der Dinge schildern zu lassen. Immerhin geht es auch für Männer um viel: um den Hauptaufenthaltsort Arbeitsplatz und wie man dort bei aller Professionalität eine Atmosphäre schaffen kann, die nicht von chronischer Unsicherheit und gegenseitigem Misstrauen geprägt ist.
3. Erkenntnis:
Manche männliche Gesten, die als Sexismus interpretiert werden, sind vermutlich in erster Linie Gesten der Macht, nicht der sexuellen Aufdringlichkeit. Die Publizistin Barbara Sichtermann sagte in einem Interview, viele Männer seien irritiert, wenn Frauen in ihren Machtbereich eindringen, und dächten: Die gehört doch gar nicht her. "Durch den Herrenwitz oder Anmache schubsen sie sie symbolisch zurück." Mit ähnlichen Machtgesten verweist dieser Typus Führungskraft allerdings auch untergebene Männer auf ihren rangniedrigeren Platz: Der Chef, der seinen Mitarbeitern ständig die Hand auf die Arme legt oder Blondinenwitze reißt, will damit klarstellen, dass er das Sagen hat. Auf Frauen wirkt er sexistisch, auf Männer dominant - ein angenehmer Vorgesetzter ist er vermutlich für niemanden, wahrscheinlich auch kein sehr qualifizierter: Wirklich gute Führungskräfte sind nicht darauf angewiesen, ihre Position durch steinzeitliche Unterwerfungsrituale zu festigen. So nötig wie die Debatte über Sexismus wäre eine Debatte über die Führungskultur in deutschen Unternehmen.
4. Erkenntnis:
Alltags-Sexismus ist nur ein Symptom. Die Krankheit heißt: fehlende Gleichberechtigung. Das Heilmittel: mehr Frauen in Führungspositionen, die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen für gleiche Arbeit, familienfreundlichere Arbeitsbedingungen, eine ausreichende, bedarfsgerechte Versorgung mit Betreuungsplätzen und Ganztagsschulen. Und nicht zuletzt: Väter, die genauso oft putzen, einkaufen, kochen und Kinderkotze wegwischen wie Mütter. Erst dann, wenn es normal geworden ist, dass Männer und Frauen sich Macht, Privilegien und Familienpflichten teilen, wird sich das Thema Sexismus erledigt haben.
5. Erkenntnis:
Die verdanke ich einem Freund, Vater von drei Mädchen: "Es ist doch ganz einfach. Männer, fragt euch, bevor ihr den Mund aufmacht, wie ihr reagieren würdet, wenn ein anderer Mann so mit eurer Tochter spricht. Dann wisst ihr, was geht und was nicht."
6. Erkenntnis:
Weiterreden! Lesen und diskutieren Sie weiter: www.brigitte.de/sexismus