Anzeige
Anzeige

Simbabwe: Leben im blinden Fleck

Simbabwe ist eines der schönsten Länder der Welt, und es ist ein Albtraum. Die Inflation ist irrwitzig hoch, die Läden sind leer, die Menschen hungern. Mittendrin die deutschen Augenärzte Konstanze Fischer und Dirk Harder, verheiratet, zwei kleine Kinder, zuständig für zwei Millionen Menschen. Besuch in einem Land, in dem das Wort Krise eine ganz eigene Dimension hat.

image

Konstanze Fischer stopft sich Geld in ihre Tasche, dicke Bündel, ein paar tausend Dollar. Sie zählt nicht nach, es kommt nicht darauf an, es sind simbabwische Dollar. Dann geht sie los, eilig, konzentriert, langer brauner Rock, feste Schuhe, die langen Haare zum Zopf geflochten. Zehn Minuten sind es bis in die Stadt, ihr Haus liegt nahe dem Zentrum von Masvingo hinter einer Hecke mit grünem Tor, ein Teppich aus lila Jacaranda-Blüten davor. Sie hat etwas vor, und sie weiß nicht, ob es klappt. Konstanze Fischer, 41, will Bananen kaufen.

Sie geht über die Straße, suchender Blick. Vorbei an "Belmont Press", dem Buchladen, in dem sie früher ihre Reiseführer kaufte. Jetzt sind die Schaufenster mit Toilettenpapierrollen dekoriert, das einzige Papier, das es noch gibt. Im OK-Markt liegen am Eingang abgepacktes Fleisch, Glühbirnen und ein paar Rollen Drops für 18 US-Dollar. Die Regale sind ausgeräumt, die Stecker der Gefriertruhen gezogen. Ein paar Angestellte langweilen sich im Halbdunkel des Ladens. Konstanze kauft das Fleisch, es ist knorpelig, aber man kann eine Soße daraus kochen. Bananen gibt es nicht.

Sie geht durch eine Stadt, die voller Menschen ist, obwohl eigentlich das Leben ruht. Masvingo ist eine leere Kulisse, und jeder, der hier wohnt, ist auf seine Weise in diesen Stillstand verstrickt. Neun Jahre leben sie und ihr Mann Dirk Harder, 45, in Simbabwe. Neun Jahre, und jedes Jahr wurde es etwas verrückter.

Und jetzt ist es ganz verrückt. Es gibt selten Strom, kaum Trinkwasser, Lebensmittel fast nur noch auf dem Schwarzmarkt. Die Inflation liegt bei 231 Millionen Prozent. Jeden Monat eine neue Null. Jeden Tag neue Preise. Die Leute sind so arm, dass sie noch die Stromkabel von den Masten klauen und im Ausland verkaufen. Zwei Millionen der zwölf Millionen Einwohner hungern, immer mehr Familien leben nur von dem, was sie im Busch finden, manche sterben einfach. Man erzählt es sich leise, es sind Nachrichten in einem Land, in dem, wer die Wahrheit schreibt, Gefängnis riskiert. Drei Millionen sind ins Ausland geflohen. Die Harders sind noch da.

image

Sie leben im Südosten des Landes, Masvingo hat 55 000 Einwohner. Sie sind Augenärzte, sie operieren Blinde, reihenweise, für einen Dollar oder kostenlos, wenn die Menschen sehr arm sind. Sie haben eine Augenklinik aufgezogen, in Morgenster, eine halbe Autostunde entfernt. Sie haben moderne Geräte beschafft, manches zusammengeschnorrt, wenn sie, einmal im Jahr, in Deutschland auf Kongresse gehen - dort sprechen sie die Aussteller an, Zeiss und andere, ob sie ein Mikroskop, eine Spaltlampe für den Busch spenden oder Sonnenbrillen. In Simbabwe fahren sie in entlegene Provinz-Krankenhäuser, in die kein anderer Augenarzt einen Fuß setzt, es gibt nicht mal zwanzig Augenärzte im Land. Für die Blinden ist das, was sie tun, ein Wunder. Sie operieren an einem einzigen Tag 30, 40 Menschen mit grauem Star. Menschen, die auf Ochsenkarren kommen und tagelang in den Kliniken auf sie warten. Und wenn es keinen Strom fürs Mikroskop gibt, nehmen Dirk und Konstanze die Autobatterie, und das OP-Besteck kochen sie im Topf auf dem Gaskocher ab. Augenklappen basteln sie aus der Verpackung der Austauschlinsen, Skalpelle aus Splittern von Rasierklingen. Sie schneiden das erblindende Auge auf, heben die Linse mit einer zum Haken gebogenen Kanüle heraus. Dann schieben sie die neue Linse mit einer Pinzette hinein. Konstanze braucht keine zehn Minuten, Dirk keine fünf. Er fühlt sich nach einem OP-Tag wie ein Rockmusiker nach einem Konzert, er hört Mozart auf dem iPod oder Hörbücher, die "Buddenbrooks", und wenn er die Augen schließt, wirbeln immer noch Linsen davor. Konstanze würde Rockmusik in diesem Zusammenhang nicht einfallen, sie ist nach so einem Tag in Gedanken schon dabei, den nächsten zu planen.

Das ist der Teil, den sie lieben. Der Teil, den sie mit ihrer Arbeit beeinflussen können. Etwas bewirken. Nicht duldsam sein. "What can we do", was soll man machen, ist der Satz, den man in Simbabwe häufig hört, in den leeren Läden, vor den Banken. Er macht Dirk wahnsinnig, diese Passivität. Sie haben ihre eigene Antwort auf die Frage: Sie handeln einfach. Aber sie können nur ändern, was man sie ändern lässt. Auch sie können oft nur zusehen. Das ist der Teil an ihrem Leben, den sie verabscheuen, der sie manchmal aus dem Gleichgewicht bringt. Diese Willkür, das Ausgeliefertsein. Simbabwes Fall.

Als sie kamen, war das Land der Brotkorb des südlichen Afrika. Dann begann Präsident Robert Mugabe, "der alte Mann", wie ihn die Simbabwer nennen, weil seinen Namen zu erwähnen die Spitzel hellhörig macht, die weißen Farmer zu vertreiben. Ihre hoch produktiven Farmen wurden bis zur Unwirtschaftlichkeit zerstückelt. Mugabes Leute stachelten die Schwarzen gegen die Weißen auf, Investoren wie Touristen hielten sich fern; Industrie, Bergbau - alles liegt nun nahezu brach. Nur die Korruption funktioniert und reicht in jeden Winkel. Und die Lüge, dass die Misere durch Auslandssanktionen verschuldet ist.

image

Jeden Tag stehen Hunderte vor den Banken für 20 000 Sim-Dollar an, mehr abzuheben ist nicht erlaubt. Zehn Äpfel kriegt man dafür. Ohne Cash kriegt man gar nichts. Deshalb bleiben die Menschen abends einfach stehen, um am nächsten Morgen ganz vorn in der Schlange zu sein. Und wenn man als Fremder, Weißer, etwas zu offensichtlich die Menge betrachtet, tritt bald einer im Anzug an einen heran und fragt nach den Gründen, und wenn man nicht überzeugt, holt er die Polizei.

Konstanzes Bank ist eine weiße Frau und heißt Charmaine, ihr Reich ist das Hinterzimmer des Spar-Marktes an der Straße nach Morgenster. Eine ehemalige Bar, die Zapfanlage steht noch da. Sie macht Geschäfte mit dem wenigen, was dazu taugt, und dafür hat sie großes Talent, Konstanze kommt ein paarmal in der Woche. Charmaine schiebt dann ihre Dior-Sonnenbrille zurecht, strahlt und ruft: "Wie schön, dich zu sehen!" Sie reden über die Politik, die Inflation, "ja, die Kurse", sagt Charmaine, ihre Hand steigt wie ein startendes Flugzeug. "Ich kann dir nicht die Rate von gestern geben." Dann wirbelt sie in ihrem wasserblauen Sommerkleid durch den Raum, sucht den Schlüssel für die Metallkisten vor ihrem Schreibtisch, holt Tüten mit Bargeld heraus, für zwei US-Dollar gibt es ein ein Zentimeter dickes Bündel Sim, hundert US-Dollar machen einen halben Meter Geld, das Charmaine hat, weil ihr Vater Geschäfte macht - er hat noch seine Farm, und an Mugabes Geburtstag spendet er großzügig. Zum Abschied sagt sie: "Konstanze, die Weltmärkte brechen zusammen, aber wir wissen wenigstens schon, wie man damit umgeht, wir sind der Welt einen Schritt voraus." Als Konstanze zu ihrem Pick-up kommt, sitzt ein Fremder auf der Ladefläche und isst ihr Brot, das Proviant für den Tag sein sollte. "Leg's weg", sagt sie, ruhig. "Wenn du mitfahren willst, okay. Aber kein Diebstahl."

Sie leben am Rand der Stadt, ihr Haus ist in die Jahre gekommen, aber sie mochten es auf Anhieb. Wenn es durchregnet, malen sie drüber. Es hat einen blühenden Garten, ein Trampolin für die Kinder steht da, Willi ist drei, Malte ein Jahr alt. Den Garten pflegt Leonard, sein Markenzeichen sind zerschlissene Gummistiefel und ein großes Strahlen. Seine Familie lebt weit draußen auf dem Land, in einem Dorf aus lose über den lehmigen Boden verstreuten Rundhütten.

Früher hat Konstanze ihn manchmal heimgefahren, in diesem Sommer wäre ein Auto mit einer Weißen in der Gegend eine Provokation gewesen. Vielleicht hätte es Ärger gegeben, Sprüche, Stunk, sie weiß es selbst nicht genau - nur, dass es auf Leonards Frau zurückgefallen wäre, die nachts allein mit den Kindern in ihrer Hütte ist und ängstlich horcht, seit man ihr die Hunde vergiftete. Es ist kein Dorf, das zusammenhält, dafür sind die Chiefs zu mächtig, die Dorfräte, Hardliner von Mugabes Partei. Sie herrschen und teilen selbst die Nahrungsmittelhilfen der Hilfsorganisationen nur mit denen, die sich anpassen. Als Leonard Mehl brauchte, zog er sich ein T-Shirt mit Mugabe- Bild an. Er lacht: What can we do.

image

Die Augenklinik in Morgenster liegt auf dem Gelände des alten Missionskrankenhauses der Reformed Church in Zimbabwe. Konstanze grüßt die Angestellten am Tor mit drei Fingern, "Gewohnheit", sagt sie, darauf muss man aufpassen, die Faust heißt: Ich bin für Mugabe, die ganze Hand heißt: Ich bin für die Opposition. Auf den Bänken in der Eingangshalle warten zwei dutzend Patienten. Der erste ist ein alter Mann, er hält seinen Blindenstock, einen rohen Ast, umklammert. Seine linke Augenhöhle ist leer, das rechte Auge fast blind. Konstanze im weißen Kittel schaut durch die Spaltlampe. "Das Auge ist verloren", sagt sie, "schmerzt es?" Mr. Dahka, ihr Assistent, übersetzt ins Shona, der Alte nickt. "Wie nehmen es raus", sagt sie, er versteht, "gut", sagt er. Er kriegt jetzt einen Blindenausweis, man kann damit kostenlos Bus fahren und hat Anspruch auf Nahrungsmittelhilfen. Der alte Mann lächelt.

Dann sitzt vor ihr eine alte Frau, eine Pudelmütze auf dem Kopf, ein braunes Schulheft in den Händen, ihre Krankenakte. Eine Linse ist getrübt, wie ein hellgrauer Knopf sitzt sie hinter der Pupille. Konstanze beugt sich vor, betrachtet Linse und Netzhaut. 20 Sekunden, dann sagt sie "Okay" und wendet sie sich wieder an Mr. Dahka: "Grauer Star, wir operieren sie heute." So geht es weiter, zwei Minuten pro Patient, Konstanze bleibt immer zugewandt, aber auch ohne sichtbares Mitgefühl, sie sagt: "Ich will keine falschen Erwartungen wecken. Wir können operieren, aber es macht nicht jeden gesund." Wenn man sie fragt, was sie sehen, wenn sie durch die Spaltlampe gucken, den Menschen sehr nah, sagt Dirk, er sieht hinein in diesen Menschen, ein Auge sei ein hoch ästhetisches Organ. Und Konstanze sagt, manchmal sieht man auch zu viel.

Man erkennt es nicht gleich, viele Aids-Patienten sehen kräftig und gesund aus. Weil es keine Medikamente für HIV-Therapien gibt, reißt das Virus sie einfach heraus. Sie sterben oft innerhalb eines Jahres. Das ist der eigentliche Grund, warum die Aids-Rate in Simbabwe, eine der höchsten Afrikas, rückläufig ist: Die Kranken sterben so schnell, dass sich weniger infizieren.

Tumore im Auge sind häufig ein Indiz. Und weil den Namen der Krankheit auszusprechen tabu ist, rät Konstanze der Patientin, die jetzt vor ihr sitzt, mit einem Tumor, der ihr weiß aus dem Auge wächst, nur, sich wegen "der Infektion" testen zu lassen. Und als sie mit den Werten vom Labor zurückkommt, eine Stunde später, sagt sie ihr, dass sie positiv ist. Die Frau steht ruhig auf, geht auf den Gang hinaus, setzt sich auf die Bank, fasst sich an den Kopf. Konstanze folgt ihr mit einem langen Blick.

Gestern war es Rosemary Machena, 35. Sie wurde auf beiden Augen so rasend schnell blind, dass Dirk die Gründe ahnte. Jetzt hat er ihr den Verband abgenommen, und Rosemary wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und die zwei Narben auf der Wange, Zeichen eines Shona-Heilers. Sie dachte, sie erblinde, weil man sie verhext habe. Dirk hat beide Augen auf einmal operiert, er sagt, sie hat nicht mehr viel Zeit.

image

Am Abend sitzen Dirk und Konstanze unter dem auf dem Rücken liegenden afrikanischen Mond, ihr Haus liegt dunkel, kein Strom, wie meistens, die beiden Hunde haben sich auf der Terrasse zusammengerollt, Konstanze dreht sich in ihre Jacke, es wird kühl. Sie nippt am Roibuschtee. Dirk zieht an der Pfeife, Vanilletabak. Konstanze sagt: "Es ist schwierig. Man geht nicht einfach. Man hofft, dass es besser wird. Man hofft immer. Wir haben so viel aufgebaut. Fast 20 000 Untersuchungen im Jahr. Wir schicken Katarakt-Finder ins Feld, die die Kranken zu uns bringen. Die Leute kommen von weit her, von der sambischen, der botswanischen Grenze. Wer soll das fortsetzen? Man kann nicht einfach gehen." Und Dirk, der ein anderes Temperament hat, aufgewühlt, sagt: "Ich habe heute 35 Leute operiert, die jetzt wieder sehen. Das ist der Lohn dafür, dass man es aushält." - "Einerseits", sagt Konstanze. "Aber dann, Dirk: Was, wenn es hier ganz kippt?" - "Und was ist die Alternative? Zurück nach Deutschland? Wo stehen wir da? Vielleicht haben wir schon den Anschluss verloren."

Und dann drehen sich ihre Argumente wieder. Verantwortung gegen Desillusion. Mut und die Freiheit, eine Klinik auf ihre Art zu leiten, gegen das, was eine Familie braucht: Sicherheit. Das Gefühl, gebraucht zu werden, gegen das Gefühl, nicht von allen geliebt zu werden. Sie haben das erlebt, vor zwei Jahren. Sie deuten nur an, um was es ging, sie müssen vorsichtig sein.

Man beschuldigte sie, einen Fehler in der Klinik gemacht zu haben, und zwang sie, in einer anderen Stadt an einem Regierungskrankenhaus drei Monate zu arbeiten, zur Nachschulung, wie es die Behörden nannten. Die Deutsche Botschaft riet ihnen, das Land zu verlassen, ihre Sicherheit sei nicht mehr gewährleistet. Sie standen in einem Nebenraum der Botschaft in Harare, lagen sich in den Armen und weinten, weil sie nicht glauben wollten, dass es das war. Sie waren verletzt, jeder auf seine Weise, Dirk wütend, Konstanze enttäuscht.

Sie packten einen Container und feierten eine Abschiedsparty, aber dann ging Dirk noch mal fischen, und Konstanze dachte: Wie kann er jetzt fischen gehen. Dirk sah die Nilpferde im Schilf des Lake Kyle schlafen und die Krokodile in der Sonne liegen. Er blieb eine Nacht, kam zurück und sagte: "Wir lassen uns nicht mit einem Fußtritt rauswerfen. Wenn, dann gehen wir, wenn wir wollen, mit erhobenem Haupt." Konstanze war so erleichtert wie beunruhigt. Seither versuchen sie, sich noch unauffälliger zu verhalten. "Low profile", nennt Dirk das, "in der Deckung bleiben. Einen guten Job machen, stolz darauf sein, aber das nicht nach außen zeigen." Halb beladen mit überzähligen Möbeln wartet der Container noch immer darauf, verschifft zu werden.

image

Dirk sagt, dass seine größte Angst ist, irgendeinem Rassismus zu verfallen, von welcher Seite auch immer, nur, weil er davon umgeben ist. Er zitiert Nitzsche, der sagt: Was lange um uns wohnt, das wohnt sich in uns ein. Deshalb hält er sich auch von einigen Weißen fern, früher gingen sie manchmal angeln, aber dann, am Lagerfeuer, hörte er, was sie wirklich dachten. Seither geht er lieber allein. Er sagt, dass er noch richtig ist in diesem Land, weil er das noch fühlt: die Neugier auf das Leben der Simbabwer.

Konstanze sagt: "Das Einzige, wovor ich mich fürchte, ist, dass ich eines Tages erkennen muss: Es war nicht gut für die Kinder. Wenn einer krank wird, oder wir würden überfallen - dann weiß ich, das Risiko ist zu hoch." Aber den Kindern geht es gut, Simbabwe ist ihr Zuhause. Malte schäkert mit jedem und versprüht noch mit breiverschmiertem Mund den größten Charme. Und Willi ist das einzige weiße Kind im Kindergarten, und die älteren Mädchen tragen ihn herum. Er geht gern.

Fast immer. Nur am nächsten Morgen nicht, da weint Willi, sein Ohr tut weh, und er mag den warmen Brei nicht, Haferflocken mit den letzten Bananen. Konstanze füttert Malte, während Dirk umherläuft und seine Tasche sucht und dann seine Brote für mittags in der Klinik und Konstanze immer wieder fragt, wo die Brote sind, aber woher soll sie das wissen.

Ihre Geschichte begann 1988 in Greifswald auf einer Studentenparty. Dirk, der Hitzkopf, Konstanze, die Besonnene: Es passt, und doch wieder nicht, das Gegensätzliche fügt und hält es zusammen. Dirk interessierte, was man als Augenarzt bewegen kann, weniger die Finessen der modernen Medizin. Er ging 1997 nach Indien, um das Operieren unter Dritte-Welt-Bedingungen zu lernen. Dann nach Kamerun, in eine Klinik im Busch. Zwei Jahre später war die Leitung der Augenklinik in Simbabwe frei, Konstanze wäre in Rostock geblieben, an der Uniklinik, oder sie hätte die Praxis der Mutter übernommen. Aber sie wollte auch mit Dirk leben, sie ging mit ihm, weil sie wissen wollte, wie weit ihr Mut sie trägt und wie weit sie einander als Paar.

Dirk ist der Ungeduldige, vibrierend. Wenn er geht, kippt sein Körper leicht nach vorn. Er ringt fortwährend, mit sich, um Ruhe, um einen Ausdruck, er will zu fassen kriegen, was ihn treibt, was er hier macht, er schreibt viel auf, Tagebuch, Gedanken, darüber, wie viel ihn hier an die DDR erinnert, nicht nur der Mangel, das Diktat oder die Ignoranz eines Regimes; vor allem das Gefühl, immer wachsam sein zu müssen. Er arbeitet schnell und bis an seine Grenzen, gerade jetzt, da Konstanze wegen der Kinder kürzertritt. "Katarakt-Schnitzer" nennt er sich manchmal selbst. Konstanze ist der Gegenpol, sie bleibt ruhig, immer, auf eine unangestrengte Weise. Verblüffend ist das, diese Souveränität. Stress ist bei ihr allenfalls ein erstarrender Blick, der knapp unter Augenhöhe zielt. Sie fängt auf, was Dirk ihr zuwirbelt, entwirrt es und wickelt es neu. Dann sieht es besser aus. Machbar. Sie sagt, sie kann das: entscheiden, ob eine Sache die Aufregung lohnt, und das ist nur bei Dingen der Fall, die mit den Patienten zu tun haben. Nicht Dirks Brote. "Du wirst sie eingepackt haben", sagt sie, "gut", sagt Dirk und ist schon weg.

Einmal im Monat schreibt Konstanze eine sehr lange Liste mit allem, was ihre Familie und die Klinik brauchen: Mehl, Reis, Eier, Salz, Milch. Ein Schlauch für Leonards Rad, die 40-Kilo-Gasflasche muss befüllt werden, ein Autoreifen repariert und der Toyota in die Inspektion. Als Luxus ein paar Dosen Bier und Cola. Dann fährt Dirk nach Südafrika. Nicht gern, er ist schon vorher nervös. 300 Kilometer, endlose Wartezeiten an der Grenze. Dann das Einkaufen und im Hinterkopf die ewigen Geschichten über die Kriminalität und Überfälle. Er sagt: "Das gibt es auch in Simbabwe, aber da kenne ich wenigstens die Spielregeln."

Die Grenze ist die Brücke über den Limpopo, ein Nadelöhr, Autos, Kleintransporter, alles, was eine Ladefläche hat, reiht sich ein, dazu Busse mit Leuten, die in Südafrika auf einen Job für ein paar Tage hoffen, Akademiker, Beamte, Bauern. Sie schlafen in Lagern unter freiem Himmel, Mensch an Mensch, sie sagen: Wenn wir eng liegen, kann keiner umherlaufen und uns beklauen.

Etwa 2000 Menschen warten schon, die, die zuletzt kamen, stehen hunderte Meter von dem Innenhof entfernt; von dort führt eine Tür in die Halle zur Passkontrolle. Zwei Schalter sind geöffnet. Eine Stunde vergeht, Dirk kommt fünf Meter vorwärts. Dann erkennt ihn ein Wachmann, "eye doctor", ruft er, und Dirk darf vor in den Innenhof, aber da stehen immer noch Hunderte vor ihm. "What can we do", sagt er, aber sein Blick sagt etwas anderes. Fünf Stunden, drei Stempel, dann noch zehn Kilometer, und Dirk ist in Musina, eine Stadt ausgerichtet auf den schnellen Einkauf derer, die alles brauchen. Dirk steuert den erstbesten Parkplatz an, bezahlt einen Mann dafür, auf das Auto aufzupassen, dann greift er im Supermarkt Mehl und Maismehl in Zehn-Kilo-Säcken, ein dutzend Fünf-Liter-Flaschen Bratöl, aus den Boxen kratzt Pop, er sagt, dass er sich so die Vorhölle vorstellt. Noch eine Packung mit Steckschienen für Willis Rennbahn, sechs Einkaufswagen hat er voll geworfen. Er heuert die mit Gummiknüppeln bewaffnete Security an, ihn zum Auto zu begleiten, es ist noch da. Dirk rast weiter, er will nicht im Dunklen zurückfahren, Kühe auf der Straße, dazu die Gasflasche auf der Ladefläche. Er sitzt schon im Auto, die letzte Passkontrolle hinter sich, als eine blinde Bettlerin ihm die leere Hand entgegenstreckt. Dirk zögert nur kurz, steigt noch mal aus, schaut ihre Augen an, sagt: "Ich gebe dir kein Geld, aber komm nach Morgenster, ein Auge können wir vielleicht retten." Hinter der Brücke über den Limpopo stehen Kinder und suchen im Staub nach Maiskörnern, die von einem Laster gefallen sind.

image

In Simbabwe gibt es Felsen, die aussehen wie riesige, auf der Spitze balancierende Hühnereier. Sie liegen weit oben und nah am Abgrund. Man kann nicht erkennen, was sie hält, doch wenn man sich gegen sie stemmt, bewegt sich nichts. Kein unsichtbarer Verschleiß, nichts bröckelt. Die Steine gehören dorthin. Vielleicht halten sie nicht ewig, aber noch sind sie da. So ein Felsen liegt auf dem Plateau hoch über Masvingo. An einem Abend kommen Dirk und Konstanze hierher, die Sonne geht unter, und die Schirmakazien in der Ferne sehen aus wie eine Herde Elefanten. Vom Friedhof am Fuße des Hügels weht Gesang in Fetzen herauf, vielstimmig und sehr schön. Das Zwielicht legt einen warmen gelben Filter über den Granitboden, und wären sie ein Paar mit einer Schwäche für große Momente, wäre dies ganz sicher einer.

Die beiden stehen da, schauen schweigend auf das Land, und dann deutet Dirk nach unten auf die Landstraße. "Konstanze", sagt er, "sieh mal, ein Tanklastwagen. Wenn der jetzt nach Masvingo fährt, dann gibt es morgen Diesel!" Sie schauen dem Wagen nach, tatsächlich, er biegt ab, wunderbar, Konstanze plant: gleich morgen mit dem Pick-up zur Tankstelle, "noch vor sieben", sagt Dirk, "am besten, wir laden noch heute Abend die Fässer auf . . . " Nebenbei geht die Sonne unter.

Simbabwe - eine Krise ohne Ende

Die Lage: Seit 1980 regiert Präsident Robert Mugabe, nach einer verlorenen Wahl verhandelte er seit Juli mit der Opposition über eine Machtteilung. Ein Abkommen darüber wurde im September unterzeichnet, die Umsetzung geriet aber ins Stocken, da Mugabe eine gemeinsame Führung von Schlüsselministerien ablehnt.

Das Projekt: Einer von hundert Menschen in Simbabwe ist blind, Ursache ist in jedem zweiten Fall der graue Star (Katarakt). Das "Masvingo Province Eye Care Programme" entstand Anfang der 90er mit Hilfe der Christoffel-Blindenmission (CBM). Seither unterstützt die CBM die Augenabteilung und seit ihrem Neubau 2003 die Augenklinik. Die Harders sind für etwa zwei Millionen Menschen zuständig. Sie und ihr Team operierten im vergangenen Jahr über 2500 Katarakte, außerdem behandeln sie Glaukome, Verletzungen und Tumore.

Spenden: Christoffel-Blindenmission Deutschland e.V., Bank für Sozialwirtschaft, BLZ 370 205 00, Spendenkonto 2020, Kennwort: Klinik Morgenster.

Text: Meike Dinklage Fotos: Birgit Betzelt Ein Artikel aus der BRIGITTE 01/2009

Mehr zum Thema

VG-Wort Pixel