"Ischen wie du gehören vergewaltigt und verprügelt. Und stattdessen steckt dir der Staat für diese dumme App Geld in den Arsch." Gelassen zitiert Stefanie Knaab im Zoom-Call aus den vielen Hassnachrichten an sie. "Eigentlich beweisen mir solche Mails doch nur, wie notwendig unsere Arbeit ist", sagt sie.
Knaab ist die Initiatorin einer App für Frauen, die Opfer sind von häuslicher Gewalt. Im März 2020 stellte die heute 32-Jährige ihre Idee bei einem virtuellen Hackathon unter Schirmherrschaft des Bundeskanzleramts vor. Inzwischen ist die App fertig entwickelt und wird nach einer Testphase derzeit von mehreren Hundert Frauen in Hannover und in der Hauptstadt genutzt.
Frauen zur Selbsthilfe ermächtigen
Damit Täter die Anwendung nicht auf dem Smartphone ihrer Partnerinnen finden, tarnt sie sich. Genauer möchte Knaab zum Schutz der Userinnen nicht werden, auch gibt sie nicht preis, wie die App zu den Frauen kommt. Die Software muss für mögliche Gewalttäter undurchschaubar bleiben. Denn sie hat es in sich: In einem versteckten Gewalttagebuch können die Frauen Übergriffe eintragen und Beweisfotos und Notizen gerichtsfest dokumentieren. Zudem gibt es eine lautlose Notruffunktion, Betroffenen wird der Weg zu lokalen Hilfsangeboten gewiesen, ein Fragebogen sensibilisiert sie, die eigene Situation überhaupt einzuordnen. Geldgeber ist das Bundesjustizministerium.
"Viele von häuslicher Gewalt Betroffene denken: ‚Ach, bei mir ist es ja eigentlich gar nicht schlimm‘", sagt Knaab. Sie sitzt im Berliner Büro ihres acht Mitarbeiter:innen starken Projekts "Gewaltfrei in die Zukunft" und zählt die Fakten auf, die sie so wütend machen: "Mindestens alle zweieinhalb Tage wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner getötet. Jede vierte Frau ist hierzulande im Laufe ihres Lebens von häuslicher Gewalt betroffen. Das heißt: Wir alle kennen Opfer, wir alle kennen Täter."
Häusliche Gerwalt hat viele Facetten
Knaab will aufklären: Häusliche Gewalt hat viele Facetten. Sie passiert nicht nur physisch oder psychisch. "Auch wenn Männer ihre Partnerinnen nach und nach von ihrem sozialen Umfeld isolieren nach dem Motto ‚Schatz, wir haben doch uns, du brauchst deine Freundinnen oder deine Familie nicht‘, ist das häusliche Gewalt", sagt sie. "Genauso wenn sie ihnen unter dem Deckmantel der Kindeserziehung ein schlechtes Gewissen machen, weil sie arbeiten gehen, oder ihnen die Erwerbstätigkeit sogar verbieten. Oder aber wenn ein Mann alle finanziellen Ausgaben überwacht und kontrolliert." Häusliche Gewalt sei ein tief in der Gesellschaft verwurzeltes, strukturelles Problem. Doch nur ein Bruchteil der Betroffenen suche Hilfe. "Wir wollen Frauen zur Selbsthilfe ermächtigen."
Wie schnell die eigene Gewissheit ("Das passiert mir nicht!") erschüttert werden kann, hat Knaab, behütet aufgewachsen nahe der deutsch-niederländischen Grenze und mit 21 nach Berlin gezogen, selbst erlebt. Mehrere Jahre steckte sie in einer Beziehung, die sie als "gewaltvoll" bezeichnet. Sie erzählt, was ihr damals half: der Rat einer Therapeutin, in schlimmen Phasen Briefe an sich selbst zu schreiben – um nachlesen zu können, was sich zugetragen habe. 22 solcher Briefe wurden es, bis Knaab erkannte: Was sich in ihrer Partnerschaft abspielte, hatte System. Sie musste raus aus dem Kreislauf von Übergriffen, großen Entschuldigungen, Verständniszeigen.
Heimlich packte sie ihre Sachen und zog aus der gemeinsamen Wohnung in eine eigene. Sie schaffte die Trennung, weil sie Zugang zu Unterstützungsangeboten hatte und ihr andere Menschen halfen. "Ich bin gestärkt aus dem Ganzen herausgekommen. Das Glück haben nicht alle."
Ihr Terminkalender ist voll in diesen Wochen. Mal hat sie ein Gespräch im Bundesinnenministerium, das die weitere Verbreitung der App und die Begleitforschung künftig mit 3,6 Millionen Euro fördern wird. Mal trifft sie die niedersächsische Innenministerin, um die nächsten Schritte der Zusammenarbeit zu besprechen. Für ihre App bündelt Knaab das Wissen von Staatsanwältinnen und Medizinern, Fachberatungsstellen und Frauenhäusern, sie arbeitet eng zusammen mit Programmierer:innen und ihrem Projektpartner, dem Landeskriminalamt Niedersachsen, das die kriminologische Expertise einbringt.
Zwischen Scham und Angst
Kürzlich begleitete sie zwei Nächte lang Polizist:innen, um zu verstehen, wie Einsätze bei häuslicher Gewalt ablaufen. Bei einem habe eine Frau, die bereits in der Vergangenheit Hilfe brauchte, die Tür geöffnet und sich erst einmal für ihren Anruf entschuldigt. "Es ist so viel Scham im Spiel", sagt Knaab. Sie weiß: Auch die beste App kann häusliche Gewalt nicht verhindern. "Das Thema ist so komplex und vielschichtig."
Um der Gewalt etwas entgegenzusetzen, müssten Akteur:innen aus vielen Bereichen an einem Strang ziehen: die Innere Sicherheit, die Justiz, das Gesundheitswesen, der Bildungssektor. "Es bewegt sich viel zu wenig, in Deutschland fehlen mehr als 15 000 Frauenhausplätze", sagt Knaab. "Erschreckend ist auch, dass immerzu gefragt wird, warum Frauen sich nicht vom gewalttätigen Partner lösen, statt sich mit dem eigentlich entscheidenden Punkt auseinanderzusetzen: Warum üben Männer überhaupt Gewalt aus und wie lässt sich das ändern?“
Stefanie Knaab nutzt nun die Türen, die ihr und ihrem Projekt offenstehen. Prüft, welche sich noch öffnen lassen. Das Ziel: Irgendwann soll die App für Frauen in ganz Deutschland verfügbar sein.