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Und dann kamst du Diese Frau könnte ich sein

Frau mit Koffer hält ein Kind an der Hand
© Halfpoint / Adobe Stock
Lena Schneider und ihre Familie haben vergangenes Jahr Oksana aus der Ukraine und ihre Tochter bei sich aufgenommen. Und eine besondere Erfahrung gemacht.

Ich erinnere mich noch sehr genau an diesen Moment, als Oksana und ihre Tochter Viktoria am ersten Abend bei uns schlafen gegangen sind. Da stand ich unten im Flur vor dem Paar fremder Schuhe, dachte dann an den Trolley, den sie dabeihatten. In diesem einen kleinen Koffer war alles, was sie aus der Ukraine mitnehmen konnten und nun besitzen. Und da ist mir noch einmal bewusst geworden, dass nichts garantiert, nichts für die Ewigkeit ist. Ich dachte: Diese Frau in meinem Arbeitszimmer, das könnte genauso gut auch ich sein. Auch meine Welt könnte plötzlich Kopf stehen. Auch ich könnte vielleicht irgendwann mit meinen Kindern allein in einem fremden Land stehen und um Hilfe bitten.

Oksana und Viktoria sind im Frühjahr 2022 bei uns eingezogen. Mich hatten die Nachrichten aus dem ukrainischen Kriegsgebiet bewegt und ich wollte unbedingt etwas tun. Und je länger der Konflikt andauerte, desto mehr hat das auch meinen Mann und unsere beiden Kinder beschäftigt. Irgendwann war der Punkt gekommen, an dem wir uns als Gastfamilie in dem Onlineportal unserer Stadt registriert haben.

Unser Reihenhaus ist nicht riesengroß, hat aber ein Arbeitszimmer, das wir entbehren konnten. Das haben wir für Oksana und Viktoria freigeräumt.

Eine ganz besondere Verbindung

Ich habe schon immer gerne geholfen, habe in der Kirchengemeinde oder ehrenamtlich im ambulanten Kinderhospizdienst gearbeitet. Trotzdem ist der Einzug von Oksana und ihrer Tochter noch einmal etwas anderes. Mit ihnen ist auch ihr Schicksal, ihre Geschichte bei uns eingezogen — und diese Nähe macht etwas mit einem. Es berührt mich und uns auf eine besondere Weise. Und genau diese Berührtheit finde ich wichtig. Das gibt uns doch erst Tiefe. Ich mag es nicht, wenn Menschen allzu oberflächlich sind, wenn sie keine wirklichen Emotionen zeigen. Wenn wir den Mut haben, jemanden wirklich an uns heranzulassen, machen wir Erfahrungen, die uns sonst wohl verwehrt geblieben wären.

Oksana und ich sind mit Sicherheit keine Seelenverwandten. Im normalen Leben wären wir vermutlich nicht einmal Freundinnen geworden. Dazu sind wir einfach zu verschieden. Doch das Schicksal hat uns zusammengeführt und unser beider Leben sehr beeinflusst. Durch Oksana und Viktoria haben wir so viel gelernt — nicht nur über die Ukraine, über die Menschen und die Gepflogenheiten dort, sondern auch viel über uns. Darüber, dass man sich etwas trauen kann im Leben. Und dass wir sehr dankbar sein können für das, was wir haben. Ich habe auch gelernt, selbst um Hilfe zu bitten. Das ist etwas, das mir schon immer schwergefallen ist.

Die Begegnung mit Oksana hat mein Leben vielleicht nicht von Grund auf verändert. Aber sie hat mir etwas ganz Wichtiges mitgegeben: die Gewissheit, auf dem richtigen Weg zu sein. Ich kann jemanden in meine Wohnung und in mein Leben lassen, ich kann einen Vertrauensvorschuss geben, ich kann da sein — und damit bin ich nicht auf die Nase gefallen. Das ist die vielleicht wichtigste Erfahrung für mich. Denn mein Wunsch zu helfen stößt in meinem Umfeld ja nicht immer auf Verständnis. Manchmal sagen Leute auch, ich könnte ja nicht die ganze Welt retten. Ich finde: Wenn das jeder sagt, kann sich doch auch nichts ändern. Inzwischen wohnt Oksana mit ihrer Tochter in einer eigenen Wohnung, wir schreiben und sprechen aber regelmäßig miteinander. Ich bin mir sicher, dass wir — auf welchem Wege auch immer — einander immer verbunden bleiben werden. 

Protokoll: Leonie Schulte Brigitte

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