Diplom-Kunsttherapeutin Sabine Grawe hat normalweise mit Gekritzel auf Notizblöcken wenig zu tun. Für uns hat sie trotzdem das Experiment gewagt, und einige unserer Kritzeleien interpretiert, ohne die Zeichner je gesehen zu haben. Zu welchen Schlüssen sie kam, lest ihr hier:
Büro-Kritzeleien: Was sagen sie über uns aus?
Das sagt die/der Kritzler/in: Stimmt zu 90 Prozent.
Interview: Warum wir überhaupt kritzeln
BRIGITTE: Die Kritzeleien, die Sie interpretiert haben, sind alle nebenbei bei der Arbeit entstanden, ohne bewussten Plan. Warum sagen sie trotzdem so viel über die Personen aus?
Sabine Grawe: Alles was wir machen und schaffen, hat was mit uns zu tun. Und je unbewusster wir etwas machen, desto näher sind wir an uns dran. Natürlich spielt auch eine Rolle, womit wir nebenbei noch beschäftigt waren. Vielleicht gab es einen Satz im Meeting, der mich inspiriert hat, Planeten zu zeichnen. Diese Anlässe fehlten mir natürlich auch für die Interpretation. Viel interessanter ist für mich aber die Art, wie die Planeten gezeichnet sind. Gerade, weil es so unkontrolliert passiert - mein Kopf ist ja mit etwas anderem beschäftigt als meine zeichnende Hand.
Wer im Meeting kritzelt, sieht gelangweilt aus. Sind diese Leute unkonzentrierter als Nicht-Kritzler?
Sabine Grawe: Nein, bewerten sollte man diese Neigung nicht. Es hat weder etwas mit Konzentrationsmangel zu tun, noch heißt es, dass Kritzler kreativer sind. Manchen Menschen hilft es einfach, beim Denken etwas mit den Händen zu machen, sei es malen oder stricken. Sie können sich so besser im Kopf strukturieren und ihre Gedanken sammeln. Tatsächlich neigen wir eher zum Kritzeln, wenn es etwas zäh oder langweilig wird. Aber das bedeutet nicht unbedingt, dass wir abschweifen, sondern es hilft uns, wach und bei der Sache zu bleiben.
Manche Kollegen sagten mir, dass sie immer wieder das Gleiche malen. Blumen zum Beispiel tauchen regelmäßig auf. Haben solche Motive eine besondere Bedeutung für den Zeichner?
Sabine Grawe: Ich denke, dass der Maler einfach irgendwann festgestellt hat, dass ihm das Zeichnen von Blumen hilft. Es sind Muster, die wir unbewusst durch die Bewegung der Hand als wohltuend empfinden. Im Fall der Blume ist es ja so, dass die Hand beim Malen immer wieder zum Zentrum geführt wird, der Stift malt raus und wieder rein, raus und wieder rein. Die Blumen können mir so also wirklich helfen, "meine innere Mitte" zu finden und meine Gedanken zu strukturieren.
Aber man kann nicht sagen, dass die Blume selbst ein Symbol für meine Persönlichkeit ist, zum Beispiel, dass ich ein positiver Mensch bin?
Sabine Grawe: Symbole spielen natürlich auch in der Kunsttherapie eine Rolle, allerdings bin ich vorsichtig, was vereinfachte, oberflächliche Interpretationen angeht, wie sie auch in vielen Büchern zu lesen sind. Ungeübte Betrachter können damit schnell auf die falsche Spur geraten - gerade auch, wenn es um die Deutung von Kinderbildern geht. Vielleicht ist der Blumen-Zeichner in Ihrem Beispiel zur Zeit viel mit seinem Garten beschäftigt und malt im Winter etwas ganz anderes. Man sollte den gesamten Mal-Prozess betrachten, um zu einem aussagefähigen Ergebnis zu gelangen; die Haltung des Malenden, die Vorgehensweise, Materialwahl, Plazierung, Papiergröße, Strichstärke etc. und letztendlich natürlich der Gesamtausdruck eines Bildes. Eine Tulpe hat zum Beispiel eine ganz andere Form und Dynamik als ein Gänseblümchen, und führt daher auch zu anderen Impulsen.
Für Sie als Kunsttherapeutin ist es ja eher ungewöhnlich, Kritzeleien von Arbeitsblöcken zu analysieren, noch dazu, ohne die Zeichner zu kennen. Wie war das für Sie?
Sabine Grawe: Ich fand es spannend, weil ich sowas noch nie gemacht habe. Normalerweise ist der Prozess bei meiner Arbeit viel komplexer. Es gibt Vorgespräche mit den Klienten, Nachbesprechungen, Aufgabenstellungen für das Bild, das gemalt werden soll - all das fiel in diesem Fall natürlich weg. Zudem konnte ich die Zeichner nicht beim Malen beobachten und nicht sehen, wie schnell sie malen, wo sie zögern und so weiter. Auch dieser Prozess ist wichtig für meine Arbeit und sehr aufschlussreich. Die Deutung der Kritzeleien hatte also wenig mit echter kunsttherapeutischer Arbeit zu tun, aber trotzdem konnte ich mir anhand der Zeichnungen recht schnell ein Bild von den Personen machen und Vermutungen anstellen.
Beim Stichwort Therapie denken die meisten erst mal an die Couch. Welche Vorteile bietet die Kunsttherapie?
Sabine Grawe: Sie bietet Menschen, die eine klassische Psychotherapie abschreckt, die Möglichkeit, sich auf spielerische Weise selbst näher zu kommen. Eine Gesprächstherapie zieht sich oft sehr lang hin, bis man zu relevanten Themen kommt. Denn wir sind in der Regel gut darin, unangenehme Dinge wegzureden. In einem gemalten Bild jedoch offenbaren sich Lebensthemen oft viel direkter und unverblümter. So können sich Klient und Therapeut schneller der Problemlösung widmen.