In der Kolumnen-Reihe "60 Stimmen" schreiben unsere Leserinnen. In diesem Artikel: Barbara Thiel lebt momentan im besetzten palästinensischen Gebiet und erlebt den Alltag im Nahostkonflikt hautnah mit.

Seit fast 2 Monaten lebe ich zusammen mit einer Schweizerin, einem Norweger und einem Philippino in Yatta. Das ist eine Stadt im Süden des Westjordanlandes, oder offiziell - entsprechend der UNO - der von Israel besetzten palästinensischen Gebiete. Es ist eine schnell wachsende Stadt mit etwa 90.000 Einwohnern und steht als "Area A" unter palästinensischer Selbstverwaltung. Wenn wir einkaufen gehen, werden wir überall freundlich begrüßt und oft gefragt, was wir machen. Überall rufen Kinder "What ?s your name?", winken oder wollen uns die Hand schütteln.
Die vielen palästinensischen Dörfer rund um Yatta sind eigentlich kleine "Zeltstädte" für ein bis zwei Großfamilien, errichtet auf dem Land der Familie. Man kann sie nur über holprige Feldwege erreichen. Sie liegen in "Area C", das ist das Gebiet, das nach den Osloer Verträgen von 1993 unter vollständiger israelischer Militärverwaltung steht. Für dieses Gebiet gibt es mittlerweile über 2000 Militärverordnungen, die das tägliche Leben regeln sollen. Der große Nachteil für die Bewohner ist, dass es deshalb seit 50 Jahren keine Weiterentwicklung und auch keine Hausbaugenehmigungen gab. Wir besuchen diese Dörfer und begleiten Schäfer und Bauern, deren Felder in der Nähe von in den palästinensischen Gebieten errichteten israelischen Siedlungen oder Militärstützpunkten liegen, und die Angst vor Zusammenstößen haben.

Abed, unser Fahrer, ist 26 Jahre alt und jung verheiratet. Seine Frau Saussan ist 20 Jahre alt. Sie hat gerade ihre diesjährigen Prüfungen in Sozialwissenschaften bestanden und erwartet im Juli ihr erstes Kind. Sie möchte gern weiterstudieren und nach dem Master-Abschluss als Berufsberaterin arbeiten. Die Arbeitschancen hier sind gering, und solange der Konflikt nicht gelöst ist, bestehen auch kaum Chancen auf eine wirtschaftliche Entwicklung in der Stadt und im Umland. Viele Arbeiter bemühen sich deshalb um eine Arbeitserlaubnis für Israel.
Abeds Familie, die aus Abeds Mutter, einer seiner Schwestern und dem jungen Ehepaar besteht, hat noch Schafe und Ziegen und lebt auch von den landwirtschaftlichen Erträgen der Großfamilie. Es ist Saussan, die früh aufstehen, Ziege, Schafe und Hühner füttern muss. Abed zieht es vor, sich um seine Vogelaufzucht - das sind Kanarienvögel, Hühner, Truthähne und Gänse - zu kümmern, dort, in der Voliere, einen Tee zu trinken, eine Zigarette zu rauchen und mit Leuten Geschäfte abzuschließen.
Als seinen "ersten Job" empfindet er aber zu unserem Glück die Zusammenarbeit mit uns. Er kennt Gegend und Leute, kann uns "Türöffner" sein, ist unser Fahrer und Übersetzer und oft auch feinfühliger Kamerad. Abed kennt nur das Leben unter Besatzung. Vieles ist für ihn normal, was uns erschreckt.

Heute bringt er uns einen langen Feldweg entlang zu einem Dorf, lässt uns aussteigen und sagt: "Da, hinter dem Hügel muss es sein. Ihr werdet es schon finden. Die Familie ist schon dort ... nur Tayyoush sehe ich nicht." Tayyoush ist eine israelische Grassroots-Organisation, die während der 2. Intifata gegründet wurde und mit ihren Aktionen auf Stellen aufmerksam machen will, wo Palästinenser Rechte zugunsten von Israelis verlieren. "Die Familie" - das ist Abu Achmad, seine Brüder, deren Frauen, seine Schwestern und etwa 20 Kinder. Sie kommen seit vier Jahren regelmäßig auf einen Platz weitab der Straße zu ihrem Feld und ihren Gewächshäusern, die sie nicht betreten dürfen. Oberhalb der Gewächshäuser entstand ein Außenposten der israelischen Siedlung Mizpe Yair, und die Siedler haben die Gewächshäuser und sein Feld in Beschlag genommen. Weil es zu Auseinandersetzungen zwischen den Siedlern und dem Bauern kam, wurde das Gebiet zur "geschlossenen militärischen Sperrzone" erklärt. Seitdem geht er mit seiner Familie jeden Samstag dorthin, um sein weiterhin bestehendes Interesse an seinem Eigentum zu demonstrieren, begleitet von Taayush und uns ökumenischen Begleitern.

An diesem Samstag werden wir auf dem Weg zum Feld von zwei Militärjeeps empfangen, am Rand des Feldes stehen weitere Soldaten. Sie zeigen uns bereitwillig das Papier, das die Sperrzone ausweist und stellen sich am Rand des Feldes so auf, dass niemand passieren kann. Und alle machen Fotos und filmen, wir von den Soldaten und diese von uns. Einige Tayyoush-Aktivisten treffen später ein. Sie erzählen, dass sie diesmal mit den Siedlern sprechen wollten. Aber als sie den Außenposten betraten, wurden sie sofort angegriffen und vertrieben.
Auf einem Platz in der Nähe des Felds, der Gewächshäuser und Außenposten angekommen, merke ich, dass alle sich kennen, und nach einer Weile wirkt das Ganze wie ein gemeinsames Picknick von Soldaten und Bauern. Sie diskutieren miteinander, der Bauer bietet allen, auch den Soldaten, Tee an. Auch wir diskutieren mit den Soldaten. Henk aus Holland war früher selbst bei der Armee und beginnt ein Gespräch über die Armeeausrüstung. Mich spricht ein anderer Soldat an. Er fragt, woher ich komme, aber er hat schon an meiner Aussprache gemerkt, dass ich aus Deutschland bin. Er erzählt mir, dass er in Augsburg geboren wurde. Seine Mutter ist russische Jüdin, sein Vater ein Deutscher. Aber er wuchs bei den Großeltern in Israel auf und kennt seine Mutter nicht. Ich frage ihn: "Mir scheint, Ihr versteht euch gut mit den Palästinensern hier. Gefällt es euch dann, dass Ihr sie von ihrem Land fernhalten müsst?" Und er antwortet: "Weißt du, es ist kein Problem zwischen den Menschen. Es ist ein politisches Spiel. Alles, denke ich. Und die Siedler, na ja..." Die Soldaten holen ihr zweites Frühstück heraus, und auch wir, der Bauer, die Männer, die Frauen, die Kinder und die Internationalen, pausieren und essen unser Mitgebrachtes. Ich spiele mit den Kindern. Mindestens zehn von ihnen bilden mit mir eine Reihe und marschieren mit mir los "und eins, und zwei, und... ein Hut, ein Stock ein Regenschirm..." und dann zählen wir auf Arabisch, danach auf Englisch, und wieder Deutsch, bis ich nicht mehr kann.
Ein kleiner Junge mustert interessiert einen der Jeeps, und dann beginnt eine scheinbar fachmännische Diskussion zwischen Vater, Sohn und Soldat. Andere Kinder gesellen sich dazu. Irgendwann fangen die Soldaten an zu singen, und die Kinder tanzen und klatschen.

Ich genieße die herrliche Natur und die gelöste Atmosphäre. Und weiß doch, wie bitter es für den Bauern ist. Wenn sich die Situation nicht ändert, werden ihm Feld und Gewächshäuser durch die israelischen Militärverwaltung enteignet - da er sie ja nicht nutzt - und den Siedlern übertragen, die sie jetzt bewirtschaften.
Ich hoffe auf den langen Atem des Bauern und seiner Familie und wünsche ihm Kraft. Ich hoffe auf die Unterstützung durch Taayush und darauf, dass sich etwas bewegt, weil die Mehrheit der jungen Menschen hier und in Israel es satt hat, gegeneinander zu stehen und Konflikte zu pflegen.