In der Kolumnen-Reihe "60 Stimmen" schreiben unsere Leserinnen. In diesem Artikel: Claudia Breidbach fehlt der linke Unterarm. Trotzdem springt sie Fallschirm. Ihre Lebenseinstellung: "Du schaffst das!"
Deutsche Meisterschaften im Fallschirmspringen 2013 in Bad Saulgau. Die Maschine vom Typ Cessan C-208 schraubt sich zügig auf die Absprunghöhe von 3.300 m. Alle Fallschirmspringer sind hochkonzentriert und gehen noch einmal vor dem Verlassen des Fliegers ihre Sprungsequenz im Kopf durch. Ein Hauch von Adrenalin liegt in der Luft. Die rote Lampe im Flieger leuchtet auf. Zwei Minuten bis wir die Freigabe zum Absprung bekommen. Grünes Licht, die Flugzeugtür öffnet sich in 3.300 m Höhe. Kalte Luft weht mir um die Nase. Das erste Team stellt sich auf und springt ab. Wir sind an der Reihe. Mein Team KARMA und ich stellen uns an der Kante zum Abgrund auf. Noch einmal atme ich tief durch. Das Exit-Signal wird geben - ready, set, go.
Wir verlassen das Flugzeug. Es geht sofort los. Gemeinsam führen wir unseren Formationssprung durch, während wir mit 200 Stundenkilometer Richtung Erde rasen. Wahnsinn! Die Separationshöhe von 1.300 m ist erreicht. Die Höhenwarner in unseren Helmen schlagen Alarm. Es ist Zeit, dass wir uns trennen. Schnelle Vorwärtsfahrt, wir fliegen sternförmig auseinander, bevor wird die Fallschirme öffnen. Die Auslöshöhe von 1.000m ist erreicht - pull. Der Fallschirm beginnt sich zu öffnen. Es wird leise. Ich schaue nach oben. Alles gut. Der Reserveschirm bleibt da, wo er ist. Ich gleite Richtung Erde und habe bald wieder festen Boden unter den Füßen. Alle sind mit diesem Sprung zufrieden. Der erste Gedanke: Nochmal!
Aber bis hierhin war es ein langer und oft auch ein sehr steiniger Weg. Ich wurde 1970 geboren. Seit meiner Geburt fehlt mir der linke Unterarm. Man nennt diese Art der Behinderung Dysmelie. Ein Leben mit nur einem gesunden Arm ist für mich ganz normal. Seit dem ich denken kann, musste ich alle Tätigkeiten mit meiner gesunden rechten Hand bewältigen, was ich auch schaffte. Im Kindergarten konnte ich als erste meiner Gruppe eine Schleife binden. Die Bananen habe ich mit dem Mund geschält. Wo ein Wille ist... Auch sonst hatte ich eine tolle Kindheit und habe zusammen mit meinen Freunden die Welt erobert. Meine Eltern haben mich immer unterstützt, aktiv und selbstständig zu sein. Sie haben mich in meinem Handeln bestärkt und waren stolz auf mich. Ich hatte Glück. Es war durchaus üblich, dass behinderte Kinder vor der Öffentlichkeit versteckt wurden. Meine Eltern haben mich darin bestärkt, nach einem Sturz immer wieder aufzustehen, sich den Herausforderungen zu stellen und es erneut zu probieren. "Du schaffst das!"
Diese Lebenseinstellung war, wie sich später herausstellen sollte, ein Schlüssel für meinen Erfolg und damit entscheidend für meinen späteren Lebensweg, der nicht immer einfach war. Als junge Frau mit Handicap war es oftmals ein Kampf, überhaupt eine Chance zu bekommen, zu zeigen was man kann. Diese Chance blieb mir zuerst einmal verwehrt, als ich keine Lehrstelle bekam. Später in der Lehrzeit als Bauzeichnerin musste ich dann darum kämpfen, Zeichnungen anfertigen zu dürfen. Diese und andere Erlebnisse haben mich als Mensch tief verletzt, da ich ja nichts falsch gemacht habe. Auch hier waren es meine Eltern die mir immer den Rücken gestärkt haben. Aber mein Potenzial, vom dem ich überzeugt war, wurde anfangs nur schwer erkannt. Hier hat mir mein wacher Geist und meine positive Lebenseinstellung trotz aller Umstände weitergeholfen. Heute bin ich Diplomarchitektin und helfe Menschen mit einer ähnlichen Behinderung, ihr Leben zu meistern. "Dafür brauchst du zwei Hände!" Dieser Satz ist mir auf meinem Lebensweg immer wieder begegnet. "Wirklich? Ihr vielleicht, ich nicht!"
Ein weiterer persönlicher Erfolg war es, 2009 die Deutsche Fallschirmsprunglizenz zu erlangen. Auch hier war es nicht einfach, einen Ausbilder zu finden, der mir eine Chance gibt, der bereit war, mit mir den Weg zu gehen. Viele Fragen mussten im Vorfeld geklärt, viele Hindernisse überwunden und so manche Träne vergossen werden. Aber im Endeffekt habe ich mich nach einiger Zeit durchgesetzt und konnte meine Ausbildung zur Fallschirmspringerin mit Bravour meistern und sogar das Packen das Fallschirms mit nur einer Hand erlernen. "Dafür brauchst Du zwei Hände!" - "Wirklich? Ihr vielleicht, ich nicht!"... Die Freude und das Staunen der anderen war grenzenlos als ich als weltweit erste einarmige Fallschirmspringerin mit Armprothese die Deutsche Fallschirmsprunglizenz in der Hand hielt.
Ein Leben mit zwei Händen ermöglicht mir seit 2011 meine bionische i-limb-Handprothese. Mit Muskelkontraktion kann ich verschiedene Griffe anwählen und somit zum ersten Mal Dinge mit zwei Händen erledigen. Ich kann Zeitung lesen, ohne diese abzulegen, Bananen schälen, Schleife binden und mit zwei Händen eine Wasserkiste tragen. Voller Stolz trage ich sie in einem auffallenden Design, damit jeder sehen kann, was möglich ist. Ein neuer Lebensabschnitt hat begonnen...
Stolz bin ich auf meine Teammitglieder des Teams KARMA. Sie haben mir die Change gegeben, an offiziellen Wettkämpfen teilzunehmen. Es war nicht einfach, andere Springer davon zu überzeugen, dass ein 4er-Formationsteam mit "7 Händen" Wettkampfniveau erreichen kann. Das Staunen der Szene war umso größer, als wir als Team KARMA bei der Deutschen Meisterschaft angetreten sind. Eine weitere Erfolgsgeschichte und ein Traum, an den ich immer geglaubt habe.
Für die Zukunft wünsche ich mir, dass die Menschen an sich selber glauben, ihre Ziele im Auge behalten und verwirklichen. "Du kannst mehr als Du denkst!" Wenn ich mit meiner Lebensgeschichte dazu beitragen kann, Hoffnung zu geben, dann würde es mich mit Stolz erfüllen. Ich möchte ein positives Beispiel dafür sein kann, dass es lohnt, an sich zu glauben.
... Und jetzt sitze ich hier im Flieger bei den Deutschen Meisterschaften im Fallschirmspringen und nehme als einzige Teilnehmerin mit Behinderung zusammen mit meinem Team KARMA teil. Ein langer Weg, der zum Ziel geführt hat. Es wurde viel gelacht, aber es wurden auch viele Tränen vergossen. Aber es hat sich gelohnt. Mein Dank geht an meine Eltern und alle, die immer an mich geglaubt haben, und die es bis heute tun. Egal ob es gerade gut läuft oder nicht so gut. Und wieder leuchtet die rote Lampe. Die Türe öffnet sich. Der kalte Wind bläst mir um die Nase. Ich habe keine Angst. Ich will es wieder spüren. Exit-ready - set - go!