Die Kinder hämmern an meine Schlafzimmertür: "Mama, warum hast du abgeschlossen? Dürfen wir fernsehen? Mach doch mal auf!“ Ich bekomme kaum die Augen auf, mir platzt der Schädel. Scheiße, war es wieder so viel gestern? Ich wollte doch nur zwei Bier trinken. Wann war ich im Bett? Keine Ahnung.
Ich schaue neben mich. Fuck, nicht schon wieder. Er liegt neben mir. Oh Mann, das wollte ich doch nicht mehr. Hatten wir Sex? Wahrscheinlich. Ich ekle mich. Ich wollte mich von ihm nie mehr anfassen lassen. Er muss hier raus, schnell und unauffällig, bevor die Kinder etwas merken.
Was bin ich nur für eine scheiß Mutter?
Ich stehe auf, mir ist übel. Schleiche mich aus meinem eigenen Schlafzimmer. Ich mache den Kindern halbherzig Frühstück und setze sie vor den Fernseher. Das sollte sie erst mal ablenken. Was bin ich für eine scheiß Mutter? Ich verachte mich abgrundtief. Ich gehe ins Bad und sehe mich im Spiegel. Scham und Schuld springen mir entgegen. Ich sehe furchtbar aus. Rote Augen, glasiger Blick. Ich stinke nach Alkohol und Kippen.
Der Typ muss hier raus. Ich wecke ihn, sage ihm, dass er verschwinden und mich nicht mehr anschreiben soll. Wahrscheinlich war ich es heute Nacht selbst, aber das weiß ich nicht mehr. Wie kann ich mich nur immer wieder auf ihn einlassen? Warum trinke ich immer wieder bis zum Filmriss? Was stimmt nicht mit mir? Als er weg ist, lege ich mich ins Bett, ziehe mir die Decke über den Kopf und kann nicht mehr aufhören zu weinen.
So oder ähnlich liefen viele Vormittage am Wochenende ab, bevor ich aufgehört habe, Alkohol zu trinken. Ich bin Jenny, 45 Jahre alt, alleinerziehende Mutter von drei tollen Kindern und von Beruf Sozialpädagogin. Seit ich 16 war, gehörte Alkohol wie selbstverständlich zu meinem Leben dazu. Auf Partys, Konzerten, Geburtstagen, überall wurde getrunken und ich habe mitgemacht. Ich habe das nie hinterfragt, aufgefallen bin ich nicht.
Die Warnzeichen ignorierte ich
Mit Mitte 20 beschäftigte ich mich zum ersten Mal mit der Theorie von Suchtentstehung und erkannte mich in einigen Punkten wieder. Zum Beispiel beim Kontrollverlust, der ein Warnzeichen für eine Abhängigkeit ist. Damit ist gemeint, dass mehr oder öfters getrunken wird, als man es sich vorgenommen hat. Das kannte ich auch, aber das kennen doch alle, oder? Es machte mich kurz nachdenklich, mehr aber nicht. Ich genoss mein Leben und die Partys, die Männer und die Punk-Konzerte. Ich lebte fürs Wochenende und Alkohol gehörte immer dazu. Mein Job war ganz okay, ich verdiente damit mein Geld, die große Leidenschaft war es aber nie.
Während der Schwangerschaften und Stillzeiten habe ich nie getrunken, und das ist mir auch nicht schwergefallen. Ich wusste ja, wofür ich das mache. Sobald ich abgestillt hatte, fing ich wieder an. In Maßen und in kleinen Mengen. Da waren es mal zwei Bier, mal ein Glühwein. Ich war so happy, wieder am Leben draußen teilhaben zu können. Doch langsam wurde die Menge wieder mehr, sodass ich irgendwann wieder mit einem Filmriss aufwachte. Zum Glück war mein damaliger Partner fit und hat sich um die Kinder gekümmert. Ich wäre so manches Mal gar nicht dazu in der Lage gewesen.
Ich fühlte mich frei, war es aber nicht
Alkohol wurde wieder Teil meines Alltags. Ich fieberte dem Wochenende entgegen und dass die Kinder endlich schlafen. Wenn ich abends mit dem Bier auf dem Balkon saß, fiel eine Anspannung von mir ab. Ich hatte das Gefühl, noch etwas anderes als Mutter zu sein und fühlte mich frei. Doch das Gefühl hielt nie lange an. Und was bitte ist das für eine Freiheit, wenn ich immer mehr trinke, als ich will? Wenn ich mich mit einem Mann einlasse, der mich schlecht behandelt, wenn ich mich selbst schlecht behandle? Wenn ich Ausflüge mit den Kindern nicht mache, weil ich verkatert bin? Ich war alles andere als frei.
Also flüchtete ich mich immer wieder in den Rausch, statt etwas in meinem Leben zu ändern. Das hatte ich früher schon oft versucht. Ich wechselte regelmäßig meine Arbeitsstelle, fing Fortbildungen an und brach sie wieder ab, fühlte mich getrieben. Ich hatte immer das Gefühl, nicht zu wissen, was ich wirklich will. Mein Leben fühlte sich schwer und oft wie ein Gefängnis an.
Von einem auf den anderen Tag hörte ich mit dem Alkohol auf
Alles änderte sich, als ich vor etwas mehr als zweieinhalb Jahren aufhörte, Alkohol zu trinken. Ausschlaggebend war, dass ich mich unbedingt von diesem Mann lösen wollte, der mir nicht guttat. Ich wusste, wenn ich weiter trinke, werde ich mich immer wieder betrunken auf ihn einlassen. Das wollte ich mir nicht mehr antun. Also ließ ich beides – von heute auf morgen.
Das wusste ich jedoch in dem Moment noch nicht. Ich vertraute mir nicht mehr. Aber ich blieb dran und kämpfte mich durch. Der Anfang war schwer, ich hatte das Gefühl, alle Menschen haben Spaß, nur ich nicht. Ich fühlte mich oft ausgeschlossen und alles schien mir langweilig und grau. Aber ich wollte auch nicht mehr zurück und wusste, dass ich Geduld haben muss und dass sich die Abstinenz irgendwann normal anfühlen wird. Ich wollte nüchtern, glücklich und frei sein.
Heute ist das so. Ich erlebe viele gute und schöne Stunden mit meinen Kindern. Ich stehe morgens fit und fröhlich auf und starte aktiv in den Tag. Ich habe endlich einen Job, der mir Spaß macht und mich erfüllt. Ich helfe anderen Frauen, die nüchtern leben, in ihre Power zu kommen und herauszufinden, wer sie sind und wie sie sein möchten. Ich weiß endlich, was ich will und lebe auf. Das ist wahre Freiheit.
Die Autorin: Jenny, 45, erzieht alleine drei Kinder. Mit ihrem Coaching-Angebot "Soberqueen" hilft sie anderen Frauen herauszufinden, wer sie sein möchten und in ihre Kraft zu kommen. Bei Instagram findet ihr Jenny unter @soberqueen_coaching