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Mit Teenie im Lockdown "Ich habe meinem Sohn 1 Euro pro Umarmung bezahlt"

Alleinerziehend im Lockdown
Kinderbuchillustratorin Stefanie Pfeil lebt mit ihrem Sohn Leo (15) in Barcelona
© privat
Barcelona im Ausnahmezustand: BRIGITTE.de-Leserin Stefanie Pfeil und ihr 15-jähriger Sohn durften drei Monate lang nicht vor die Tür. Hier erzählt sie, wie sie den Lockdown gemeinsam überstanden haben. 

Plötzlich hieß es: Wir dürfen das Haus nur noch zum Einkaufen verlassen. Die Straßen sind voll mit Polizei, jeder Schritt wird kontrolliert. Die Menschen ziehen los und kaufen Klopapier, Mehl und Zucker, als wären wir im Krieg. Ich höre nur noch: HAUSARREST! 

Ein Mama-Sohn-Gefängnis auf 57 Quadratmetern 

Was so viel heißt, wie: Ich bin auf unbestimmte Zeit mit meinem jugendlichen Sohn eingesperrt. Keine Schule, keine Freunde, kein Entrinnen, nicht für ihn, nicht für mich! Panik überkommt mich, und es ist nicht die Angst vor dem Virus.

Hat irgendjemand da draußen an die alleinerziehenden Mütter mit Teenagern gedacht!? 

Ich atme in eine Papiertüte und mache mich auf den Weg zum Großeinkauf. Aber was häuft sich da in meinem Wagen? Alkohol und Schokolade! Als hätte ich für eine Party eingekauft. Es sind Vorräte für mein kleines Mama-Sohn-Gefängnis, eingesperrt auf 57 Quadratmetern Stadtwohnung ohne Balkon. "Wir schaffen das", versuche ich zu meditieren und wünsche mir, dass eine Mutter der Nation kommt und mich erlöst!

Leo wird zum Höhlenmenschen im Schlafanzug

Mein Sohn Leo dagegen bleibt ruhig. Nimmt die Dinge so, wie sie kommen, und beginnt das Leben eines Höhlenmenschen. Ohne die Jagd und das Feuer, dafür mit einem Handy, einem Computer und einem Tablet. Das Bett ist seine Insel, die er nur verlässt, um zu essen und auf Toilette zu gehen, den Schlafanzug zieht er kaum noch aus. Wegen des mangelnden Sonnenlichts gebe ich ihm Vitamin D.

 

Lockdown alleinerziehend
© Stefanie Pfeil

Meine große Freude ist, dass es bald digitalen Unterricht gibt, das heißt, mein Sohn ist wenigstens vormittags beschäftigt. Seine Schulklasse trifft sich bei Videokonferenzen und ich sehe, wie Leo sich virtuell lustige Hintergrundbilder einbaut. Kurz darauf bekomme ich von seiner Lehrerin eine Mail: "Leo macht viel Unsinn während des digitalen Unterrichts." 

Das war zu erwarten. Wenn regulärer Mittelstufenunterricht für einen Jugendlichen langweilig ist, stelle man sich das Gleiche auf einem Bildschirm mit vielen kleinen Fenstern voller Mitschüler vor - eine Art virtueller Adventskalender. Dazu überforderte Lehrer, deren Kinder ins Bild laufen, während 28 Jugendliche im Schlafanzug auf ihren Höhlenbetten heimlich neben dem Computer auf ihren Handys Videos schauen. 

Ich selbst arbeite wie immer von zu Hause. Die Tür des Kinderzimmers ist jetzt meist geschlossen, weiß der Himmel, was in den vielen Wochen des Lockdowns dahinter alles stattfindet. Ist ein Junge in seinem Alter vielleicht einfach nur froh, wochen- oder monatelang eingesperrt zu sein und viel mehr Zeit an seinen elektronischen Geräten verbringen zu können? Ich bin aber angenehm überrascht, dass Leo bereit ist, mehr Hausarbeit zu übernehmen und auch mal zu kochen.

Wer ist dieser junge Mann in meiner Wohnung?

Eine Freundin ruft an und fragt, ob wir bereit wären, uns für eine spanische Tageszeitung interviewen zu lassen – es gehe darum, wie wir das Homeschooling erleben. Leo ist einverstanden, und ich finde es auch okay, also werden wir kurz darauf angerufen. Leo redet zuerst: Ich höre ihn in ganzen Sätzen sprechen, freundlich und sprachgewandt. Wer ist dieser junge Mann? 

Dann der Inhalt: "Jetzt kann ich endlich mal Dinge lernen, zu denen ich sonst nicht komme." Dann höre ich wie er sagt, dass er angefangen habe, Französisch zu lernen.

What? Mein rappender Sohn im Schlafanzug, der meist schläft, Serien schaut oder mit Freunden chattet, lernt französische Grammatik? Habe ich ihn total falsch eingeschätzt? Ich bin beeindruckt! Das heißt, ich gehe schnell aus dem Raum, damit die Reporterin mein Lachen nicht hört. Es gibt nur zwei Möglichkeiten:

  1. Hinter der Fassade des Gangsterrappers steckt ein lernbegieriger Intellektueller.
  2. Er hat sich das spontan ausgedacht und so überzeugend rübergebracht, dass er es sogar selbst glaubt.

Beide Varianten sind interessant. Die erste, weil sie voller Hoffnung ist, dass er seinen Lerndrang nur hinter der Fassade des Gangsterrappers versteckt, um bei seinen Freunden nicht als Streber zu gelten. Die zweite, weil ich tatsächlich große Anerkennung für seine schauspielerische Leistung hätte, schließlich ist sein Traumberuf Schauspieler.

Ich kann es kaum abwarten, das Geheimnis zu lüften. Er gibt es direkt zu: "Das mit dem Lernen klang irgendwie gut, das hab ich mir ausgedacht und dann fragt die auch noch nach, was ich lerne, da ist mir nur Französisch eingefallen."

Das Leben im Lockdown kann einsam sein

Um nicht in eine Depression abzustürzen, versuche ich, schöne Rituale in unseren Lockdown-Alltag einzubauen. Jeden Tag darf sich einer von uns wünschen, was wir gemeinsam machen. Ich wünsche mir, mal wieder gemeinsam zu singen, er wünscht sich, Crêpes zu machen ... Jeder Tag ist ein Wunschtag, was für eine gute Idee! Nach wenigen Tagen haben wir aber keine richtige Lust mehr auf so viele Wünsche, und vor allem Leo hat keine Lust mehr, mir meine Wünsche zu erfüllen und geht zurück in seine Höhle.  

Mit einem Höhlenwesen in einer Wohnung zu leben, kann auf Dauer sehr, sehr einsam werden, vor allem wenn es verboten ist, Freunde zu treffen. Nach einem Monat Lockdown führe ich deshalb ein neues System ein: Ich bezahle ihm einen Euro für eine Umarmung. Mein Sohn umarmt mich nun einmal am Tag, und ich zahle gerne dafür: Ich bekomme meine Umarmung und er muss sich nicht schlecht fühlen, als 15-Jähriger seine Mutter zu umarmen, denn es ist ja sozusagen ein Job. Das Geld wird gesammelt, davon gehen wir nach dem Lockdown ins Restaurant.

Während der Wochen gemeinsamen Höhlenlebens habe ich manchmal gedacht, dass sie vielleicht die intensivste Zeit sind, die wir noch miteinander haben, bevor Leo irgendwann auszieht. Und so ein Höhlenjugendlicher ist im Miteinander eigentlich auch ziemlich angenehm:

Die täglichen Streits fallen weg, weil es kaum etwas gibt, was sich auszudiskutieren lohnt, da sowieso alles verboten ist, was Spaß macht. 

Auch wenn es schwerfällt, möchte ich an dieser Stelle ein Lob aussprechen: Mein Teenagersohn ist absolut lockdowntauglich! Ich glaube sogar, mehr als ich. Vielleicht hat er gar nicht gemerkt, dass wir mehr als drei Monate eingesperrt waren? Ich werde bei Gelegenheit mal nachfragen.

Die Autorin: Stefanie Pfeil ist Kinderbuchillustratorin und -autorin in Barcelona. Als alleinerziehende Mutter mit jugendlichem Sohn erlebt sie viel, was sie mit Humor, Mitgefühl und Verzweiflung betrachtet und beschreibt. Dieser Text ist eine Veröffentlichung von Anekdoten, die ihr in ihrem Blog “pfeilsender.de” weiter verfolgen könnt.

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