“Er meint das nicht so, man muss ihn akzeptieren, wie er ist. Er kann auch echt nett sein." Lange Jahre habe ich diese Erklärung meiner Oma (sie ist die beste der Welt) zum Verhalten meines Bruders akzeptiert – und auch geglaubt.
Unsere schwere Geschichte machte uns zu Verbündeten
Warum? Weil wir beide eine wirklich schwere Geschichte durchgemacht haben. Unsere Mutter erkrankte zweimal an Krebs und erlag schließlich der Krankheit, als wir noch Teenager waren. Die Eltern unseres Vaters, die mit uns unter einem Dach wohnten, starben ebenfalls in den Jahren danach. Unser Vater ist eine sehr schwierige Person: manipulativ, emotional erpressend, sehr egoistisch. Das alles verbündete mich mit meinem Bruder.
Als dann 2017 auch noch unser anderer geliebter Opa verstarb und unser Vater ins Krankenhaus kam und sein Lügengerüst vollends in sich zusammenfiel – wir erfuhren, dass wir pleite waren –, hielt ich es nicht länger aus.
Der Schmerz der Jahre prasselte auf mich nieder, ich verfiel in eine Depression und begann eine Therapie. An dieser Stelle muss ich meinem Bruder zugutehalten, dass er sich um viele organisatorische Dinge kümmerte, während ich den Kontakt zu meinem Vater abbrach.
Die Therapie öffnete mir die Augen
Als ich die Therapie begann, war mir gar nicht bewusst, wie depressiv ich bereits gewesen war. Es dauerte Jahre, alles aufzuarbeiten, aber langsam und sicher merkte ich, wie ich mich veränderte. Ich akzeptierte nicht mehr, wenn man mich nicht mit Respekt behandelte, und ich schloss meinen Frieden damit, dass ich meinem Vater weder helfen noch ihn verändern konnte – und dass der Kontaktabbruch, so schwer er war, für mein Seelenheil wichtig war. Auch mein Umfeld bemerkte, dass ich mich positiv veränderte.
In dieser Zeit fingen die ersten Konflikte mit meinem Bruder an. Zunächst registrierte ich seine Spitzen, das Heruntermachen meiner Persönlichkeit und meiner Entscheidungen deutlicher. Immer öfter begann ich, ihm Grenzen aufzuzeigen und Respekt einzufordern. Er wohnte neben meiner Oma, und wenn wir gemeinsam bei ihr aßen, dachte ich häufig, als alle Anwesenden seinen Geschichten lauschen mussten: "Wann hat er mich eigentlich das letzte Mal gefragt, wie es mir geht?” Und wenn er seine Freunde vor allen anderen runtermachte: “Warum behandelt er seine Freunde so? Sind wir aus dem Alter nicht raus?" Auch auf mir hackte er herum:
Den absoluten Tiefpunkt erreichten wir Weihnachten 2020, als er mir sagte, ich hätte auf gar nichts Anspruch, als es um Omas Haus und Grundstück ging. Dabei gehört uns das seit 2016 zu gleichen Teilen. Ich würde schließlich nur zum Urlaub machen zu Oma kommen und mich aus allem raushalten. Keinen Finger würde ich rühren.
Ich kam zu dem Schluss: Mein Bruder ist ein Narzisst
Meine Enttäuschung über ihn als eine der letzten Personen, die mir aus meiner Familie geblieben ist, ließen mich über all die vergangenen Jahre nachdenken. Und ich kam zu dem Schluss: Mein Bruder ist ein Narzisst.
Verstößt jemand gegen seine Regeln vom Leben, muss diese Person umgehend eines Besseren belehrt werden. Du kannst in seiner Welt nur existieren, wenn du seine Regeln befolgst.
Innerhalb der letzten Monate bekam ich auch mit, dass einige unserer Bekannten sich ebenfalls sehr an ihm stören. Endlich war ich mir sicher, dass nicht ich das Problem bin. Auch das war das Werk des Narzissten: Fehlersuche findet nie bei ihm statt, ausschließlich in der manipulierten Person. Mir.
Jetzt ist das Maß voll. Mein Bruder, der Narzisst, manipuliert mich aufs Neue, erpresst mich emotional mit Aussagen wie “Opa hätte es so gewollt”, ein verzweifelter Versuch, mich dazu zu nötigen, ihm meine Hälfte des Hauses zum Schleuderpreis zu verkaufen – und mich als geldgierige, undankbare kleine Schwester hinzustellen, weil ich es nicht tue und tun werde.
Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Blut ist nicht dicker als Wasser. Lieber großer Bruder, du hast dir das Recht verwirkt, Teil meines Lebens zu sein. Ich ertrage dich nicht mehr. Ich bemitleide dich, aber ich brauche dich nicht. Es tut mir weh zu sagen, dass du schlimmer geworden bist, als unser Vater es je war. Der hat mich immerhin gefragt, wie es mir geht.
*Der Name ist der Redaktion bekannt