Ich lag auf der Seite und versuchte, die Tränen zurückzuhalten. In spätestens zehn Minuten würde Marcel sich beruhigen und mir weinend seine Liebe gestehen. Mein Trost war ihm sicher. Wie jedes Mal.
Ich war erst kürzlich nach Paris gezogen, hatte mir eine Stelle gesucht und wollte in ein paar Monaten studieren. Marcel war mir in der ersten Woche nach meiner Ankunft bei einem Konzert über den Weg gelaufen. Der gutaussehende Südfranzose mit dem drolligen Akzent zog mich schnell in seinen Bann. Er studierte Maschinenbau im letzten Semester, fern der Heimat. Gerne wollte ich ihm eine neue bieten, und schon bald tauschte Marcel sein Wohnheimzimmer gegen meine kleine Einzimmerwohnung. In der Anonymität der Großstadt fand ich in Marcel mein erstes Paradies. Ich war unsterblich verliebt und glücklich. Und wollte den Haken nicht sehen.
Marcel litt an erektiler Dysfunktion – und ich war schuld
Ich war nicht unerfahren, doch der Sex mit Marcel wurde ganz schnell zum Problem. Er konnte nicht zum Höhepunkt kommen und litt an erektiler Dysfunktion. Ich versuchte alles, um ihn zufriedenzustellen. Neun von zehn Male endete das in einer Katastrophe. Marcel gab mir dafür die Schuld: nicht attraktiv genug, zu moppelig. Mit früheren Freundinnen sei ihm das nie passiert. Er zeigte mir Bilder von langbeinigen, gertenschlanken Schönheiten. Ich schluckte, schätzte mich aber so glücklich, dass er mich trotzdem auserwählt hatte.
Ich wollte und sollte attraktiver für ihn werden. Doch meine Diätversuche tat er mit Geringschätzung ab, meine Oberschenkel, schon zu Teenie-Zeiten mein wunder Punkt, würden immer "Krautstampfer" bleiben, so seine Worte. Dabei war ich zu dem Zeitpunkt nicht nur normalgewichtig mit Konfektionsgröße 38, sondern auch als Läuferin ambitioniert unterwegs. Auch das sah er kritisch.
Er wollte immer bewundert werden
Er aber wollte bewundert werden für sein Aussehen, sein Ingenieursstudium, seine Triathlon-Erfolge, die allenfalls mittelmäßig waren, während er mir verbot, Trikots von Wettkämpfen zu tragen, an denen ich teilgenommen hatte.
Er war meine One-Man-Show, und für mich zählte nur seine Gemütslage. Wenn es ihm gut ging, war ich glücklich. Und wenn er beim Sex versagte, nahm ich die Schuld auf mich, fühlte mich dann unendlich stark und geliebt, wenn ich seine Tränen in meinen Armen trocknete. Er vertrat so beharrlich seine Ansichten, dass ich sie mit Haut und Haaren schluckte und ihm überall recht gab. Natürlich war ich fett und hässlich. Laufen und Studium? Brauchte ich nicht. Meine eigene Persönlichkeit wurde komplett in den Hintergrund gedrängt, und meine einzige Aufgabe bestand darin, bedingungslos alles für ihn zu tun. Die Schläge in mein Gesicht spürte ich fast nicht. Sie waren ja auch gerechtfertigt, dachte ich. Und dabei war ich … glücklich.
In der Peepshow würde ich endlich lernen, wie man Männer antörnt
Als Marcel mir befahl, mich während seiner Praktikums-Abwesenheit in einer Peepshow zu bewerben, zuckte ich noch nicht mal mit der Wimper. Dort würde ich lernen, wie man Männer antörnt, na klar, das würde ich für ihn tun. Meinem noch schüchternen Anruf auf die Annonce folgte ein "Vorstellungsgespräch", bei dem ich vor versammelter Belegschaft einen Strip hinlegen musste, und ich wurde tatsächlich genommen.
Nach meinem normalen Bürojob führte mein Weg jetzt in eine bekannte Pariser Straße mit lauter Sexshops. In Peepshows ist nur Zuschauen erlaubt, trotzdem sind die einzunehmenden Posen durchaus lasziv-pornographisch mit gespreizten Beinen. Die anderen Girls waren fast alle drogenabhängig, verschuldet oder wurden zu der Arbeit gezwungen. Schnell bekamen sie heraus, dass ich aus anderen Gründen als Peepgirl arbeitete und nahmen mich nicht für voll. Neidisch sahen sie, dass ich öfter als sie gebucht wurde, was Extrageld bedeutete. Ich bekam viele Komplimente in diesen vier Wochen, vor allem für meine Figur. So schön, so weiblich, so knackig, so … clean und so unverbraucht. Ich erzählte Marcel freudestrahlend davon und erntete … einen Wutausbruch. Ich und Komplimente? Ich verdiente keine. Er tobte am Telefon. Am Ende des Praktikums ließ er seine Sachen von mir abholen, warf den Schlüssel in den Briefkasten und kehrte nicht zurück.
Stattdessen lernte ich, mich selbst zu lieben
Ich schmiss beide Jobs und hing tagelang wie betäubt in der Wohnung herum. Dann stellte ich mich nackt vor den Spiegel. Schrieb die Komplimente der Klienten mit Lippenstift mitten über das Spiegelbild. Ich brezelte mich auf und ging aus. Allein.
Es folgte eine Zeit, auf die ich heute nicht unbedingt stolz bin. Bis zu drei Affären pro Woche im Pariser Nachtleben. Bei jeder einzelnen wurde meine Frage "Sag mal, stimmt irgendetwas mit mir nicht, bin ich zu dick, zu unerotisch …?" ausnahmslos belächelt und allenfalls mit "Spinnst du?" beantwortet.
Ich musste diese Antwort immer wieder hören, brauchte die Bestätigung, um endlich ein positiveres Körpergefühl erlangen zu können. Nach dem tiefen Fall durch den Verlust meiner Ein-und-Alles-Beziehung konnte ich mich nur so endlich wieder spüren und akzeptieren. Trotzdem musste ich noch durch eine Selbstverletzungsphase hindurch, bevor ich wieder lernte, mich selbst zu achten und mich als Frau mit vielen liebenswerten Details neu kennenzulernen. Hierfür musste ich auch therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Ironie des Schicksals: Die Peepshow, die mich ja eigentlich komplett an ihn binden sollte, hatte den Grundstein für meine neue Body Positivity gelegt.
Ein Jahr später wurde ich unter vielen Bewerber:innen an einer renommierte Pariser Universität angenommen.
Es passiert nichts ohne Grund in diesem Leben. Ich war Marcel-süchtig, aber die Federn, die meine Persönlichkeit gelassen hatte, ließ ich aus eigener Kraft nachwachsen. Heute trage ich stolz ein glänzendes Federkleid und bin mit mir und meinem Körper im Reinen.
Die Autorin: Janine* (Name ist der Redaktion bekannt), 52, ist verheiratet und hat drei Kinder. Sie arbeitet im Gesundheitssystem, ihre Leidenschaft gehört jedoch dem Schreiben. Sie lebt mit Familie und Aussie-Shepherd-Hündin in Südbaden.