Versuchsobjekt: Roland Rödermund, der eigentlich nicht aus Zucker ist
Testumgebung: So ziemlich jeder Ort, an dem er Essen kauft, zubereitet oder bestellt
Mission: Die Nahrungsaufnahme verbessern, Stichwort: Clean Eating
Unangenehm, aber wahr: Süßkram zählt für mich schon immer zu den Grundnahrungsmitteln. Er wird ständig und ohne Fressbremse weginhaliert. Während meiner frühkindlichen Zuckersozialisation gab es neben viel Gemüse und kaum Fertiggerichten zwar Honig oder Rübenkraut und sonntags Kuchen, aber eben nie das richtig gute Zeug. Meine Mutter hätte wohl lieber Rasierklingen gegessen, als uns Fer-tiggerichte vorzusetzen, geschweige denn Schokolade oder Weingummi zu kaufen. Ich vermute, dass ich auf diesen relativen Verzicht mit regelrechter Zucker-Obsession reagierte. Auf Kindergeburtstagen wurde ich regelmäßig mit "Die anderen Kinder möchten auch noch was!" ermahnt. Und als ich checkte, dass in vielen Familien die Süßigkeitenschublade wie selbstverständlich zum Inventar gehört, wurde ich sofort zum Beschaffungskriminellen.
Was Zucker mit dem Körper macht
Dass Industriezucker uns krank und kirre macht, ist mir bekannt. An die 33 Kilogramm schaufeln Durchschnittsdeutsche im Jahr in sich hinein. Das sind, man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen, 11 000 Zuckerwürfel. Pro Tag circa 30, erlaubt wären laut WHO halb so viele, um das Risiko für Bluthochdruck, Diabetes, Fettleber, Herzerkrankungen oder Krebs "normal" zu halten. Ich brauche Glucose als Treibstoff zum Atmen, Laufen oder Schreiben – den könnte sich mein Körper aber auch aus Kartoffeln oder Pasta ziehen.
Bisher hatte ich immer gedacht, dass ausgerechnet mir der ganze Zucker nichts ausmachen würde – als wäre ich als Baby ins Nutellaglas gefallen, so wie Obelix in den Zaubertrank. Mir wird ja auch nie schlecht davon, ungerechterweise bin ich trotz mehrerer Tafeln "Edel Vollmilch Ganze Nuss" pro Woche schlank. Dann kommentierte mein Hausarzt neulich erstmals mein gro-ßes Blutbild mit dem Satz: „Ah, das sieht aber nicht so gut aus.“ Er hielt eine kleine Predigt, verglich meine Bauchspeicheldrüse mit einem Ackergaul, dem irgendwann die Beine wegbrächen. Diabetes Typ 2 ließe grüßen. Ich war beschämt, besorgt – und stellte mir das Innere meiner Blutgefäße wie Tropfsteinhöhlen vor, in denen die Abla-gerungen aufeinander zuwachsen wie Stalagmiten und Stalaktiten. Okay, versuche ich es halt mal ohne.
Ciao Zucker, Hallo Clean Eating!
Süßigkeiten und Alkohol klemme ich mir für dreieinhalb Wochen – nicht vier, weil vorher der Geburtstag meiner längsten Freundin ist, das ginge zu weit. Ebenso sind alle verarbeiteten Lebensmittel, denen Industriezucker getarnt als Isomalt, Milchpulver, Mannit, modifizierte Stärke und, und, und zugesetzt wurde, tabu. Sowie Süßstoffe, raffiniertes Getreide – Weißmehl, weißer Reis, herkömmliches Brot. Nie wieder "Druffi"? Ist Clean Eating der Anfang meines gesünderen Lebens, in dem Zucker Statist statt Hauptdarsteller ist?
Dass es kein Zuckerschlecken würde, hatte ich geahnt. Doch schon in Woche eins wird mir schmerzhaft klar, wie naiv ich war: Ich habe Entzugserscheinungen! Kopf und Glieder tun weh, hinzu kommt dieser undefinierbare, modrig schmeckende Pelz auf der Zunge. Schon jetzt die ständige Frage: Was esse ich bloß?! Aus lauter Angst, aus Versehen Zucker zu mir zu nehmen, faste ich fast. Einkäufe sind ab sofort Spieß-rutenläufe, die viel aufwendiger als sonst sind. Auch weil ich nun diese Person bin, die mit zusammengekniffenen Augen mikroskopisch klein geschriebene Zutatenlisten zu entziffern sucht. Pesto, Sojasoße, Brot, Senf, Müsli, Joghurts (auch die fettreduzierten und die veganen) – ich darf eigentlich nichts mehr. Oder muss ewig die zuckerfreie Variante suchen. Dazu im Kopf ein Zuckerporno in Dauerschleife: obszön riesige Schokoriegel, Colaflaschen, Lakritzschnecken …
Mehr oder weniger hilfreiche Tipps
Um beim cleanen Eating die schmutzigen Gedanken zu unterdrücken, bohre ich immer wieder meinen Zeigefinger in die Stelle zwischen Nasenspitze und Oberlippe. Das Grübchen dort ist ein Akupressurpunkt, 20-sekündiges Drücken stoppt sofort den Heißhunger, steht im Ratgeber "Zuckerfrei. Die 40-Tage-Challenge". Bis zu einer Minute presse ich mit dem Finger, nur nützt es nichts: Der Jieper auf Süßes, ebenso auf Pommes Mayo, Chips oder Flips, lässt nicht nach. "Eine Grapefruit, halbiert, mit Zimt bestäuben – und loslöffeln" empfiehlt die "Zuckerfrei"-Autorin. Ich verziehe das Gesicht. Bin ich jetzt nicht genau in der Schublade, in die ich selbst Menschen gesteckt hatte, die sich meiner Meinung nach zu gesund ernähren? Spaßbefreit, blut-leer, sauer statt lustig …
Die Notfall-Kekse aus Mandelmus, stark entöltem Kakao und Bananen (eine hat etwa vier Teelöffel Zucker in sich), die ich mir ausnahmsweise erlaube, helfen da nur bedingt. Auch wenn die braunen Teigkleckse vor und nach dem Backen aussehen wie das Kackhaufen-Emoji, feiere ich ihre Süße, die sogar einigermaßen gesund ist.
Zucker ist einfach überall
An sich mag ich Kochen ja. Aber ich bin ein sehr impulsgesteuerter Esser, dem das Planen schwerfällt. In Woche zwei habe ich gefühlt alle halbwegs zufrieden machenden Salat- und Tofuvarianten durchgespielt. Das Problem ist nicht mehr, keinen Zucker essen zu dürfen, sondern die Frage, was ich überhaupt noch essen darf. Immer, wenn ich ein deftiges, nahezu zuckerfreies Rezept finde, jubiliere ich innerlich. Senfeier, toll! Okay, nicht mit Kartoffel-, sondern nur fadem Blumenkohlpüree. Und erst der dritte Supermarkt hat Senf "ohne".
Ich sherlocke die ganze Zeit nach Rezepten, was dazu führt, dass sich alles noch mehr um Essen dreht. Zwar fehlen mir Süßigkeiten und auch Brot nicht mehr so arg. Dafür bekomme ich – Flexitarier, der selten Fleisch isst – Wahnsinnslust auf Steak, Braten oder Burger. Ich überlege immer wieder, hinzuschmeißen. Gleichzeitig keimt mein Ehrgeiz auf: Es kann doch wohl nicht angehen, dass ich so auf Zucker angewiesen bin, so abhängig bin von einer zwielichtigen Industrie, die nichts anderes im Schilde führt, als mich mit ihrem süßen Gift abzufüllen.
Die Erfolge fühlen sich klein an, halten mich aber über Wasser. Ich zwinge mich beim Italiener zur peinlichen Frage: "Haben Sie auch was ohne Zucker und Weißmehl?" Mein Gegenüber sagt, während sie ihre Funghi mit doppelt Käse mampft: "Zucker ist ja der Beweis, dass es so was wie den Teufel gibt. Wie kann etwas, das so gut schmeckt, so schlecht für einen sein?" Das unterschreibe ich sofort.
Immerhin: Mein Atem kommt mir inzwischen vor wie eine Frühlingsbrise, ich lese, dass sich die Bakterien im Mund ohne Zucker schlechter vermehren. Und ich erlebe eine Explosion im Mund, als ich ein paar Heidelbeeren da reinwerfe. Sie sind genauso intensiv süß wie ein "Gervais Obstgarten". Dazu schlafe ich wie ein Stein, und die Süßwarenabteilung im Supermarkt lässt mich immer kälter. Im Kopf wächst nicht ohne Stolz der weiße Berg, den ich in diesen Tagen nicht gegessen habe. Auch wenn ich mich weniger bewege als sonst – für Laufen oder Fitness fehlte mir vor allem anfangs die Power –, kommen mir meine Arme definierter vor, der Bauch ist etwas flacher. Das ist ja auch das Mindeste, obwohl Abnehmen kein Primärziel war.
Dreieinhalb Wochen geschafft! Und jetzt?
Und dann ist er da, Tag X. Natürlich sind meine Blutwerte jetzt schon deutlich verbessert, ich bin gespannt auf die Langzeitwerte und darauf, ob ich wirklich weniger Zucker zu mir nehme. Der Vorsatz ist jedenfalls da! Wenn man Zuckerfrei-Jünger, meist sind es wie Honigkuchenpferde strahlende Frauen, in ihren Büchern und Blogs glauben kann, dann verschwindet nach einer gewissen Zeit die Lust auf Industriezucker komplett.
Endlich besagter Geburtstag. Ich wünschte, ich könnte jetzt sagen, dass ich mich ein bisschen zurückgehalten hätte, dass mich Zucker abstößt, ich ihn als zu süß empfinde. Doch als ich ihn in Form von feinsten Backwaren so vor mir sehe, dauert es keine drei Sekunden, bis die erste auf meinem Teller landet. Als wären die letzten Wochen gar nicht passiert! Nach dem vierten Stück höre ich auf zu zählen – und habe am nächsten Tag Kopfweh, als hätte ich drei Tage durchgesoffen. Wieder ein paar Tage später passiert dafür etwas Bemerkenswertes: Ich habe einen Jieper auf Süßes. Auf dem Weg in die Küche muss ich ihn vergessen haben. Ich greife mir statt der Mandelschokolade einen Apfel. Einfach so, es fällt mir fast gar nicht auf. Bin ich am Ende doch vom Suchti zum Fruchti geworden? Süßer Vogel Hoffnung …