"Ich kann die Vergangenheit nicht mehr ändern"
Gaby kam am 21. November 1959 in einem Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen zur Welt und wurde auf der Säuglingsstation mit Susanne* vertauscht.
Nachdem meine Mutter mich entbunden und zum ersten Mal im Arm hatte, brachte eine Nonne mich auf die Säuglingsstation. Babys wurden Müttern damals nur zum Stillen gebracht – und sofort wieder mitgenommen. Als meiner Mutter am nächsten Tag ein Neugeborenes mit schwarzen Haaren in den Arm gelegt wurde, sagte sie, das weiß ich aus Erzählungen: 'Das ist nicht mein Kind!' – 'Doch, natürlich ist es das', entgegnete die Ordensschwester. Sie ließ keinen Widerspruch zu.
Auch die Frau, in deren Arme man mich zum Stillen legte, fragte sich, wohin die vielen schwarzen Haare über Nacht seien. Die Nonne sagte nur: Ausgefallen, über Nacht, das komme vor!
Als Mutter zweier Kinder weiß ich, dass man direkt nach der Geburt weniger vom Verstand und mehr von hormoneller Vernebelung gesteuert ist. Dazu kommt der Umstand, dass meine beiden Mütter hinnahmen– wie Frauen damals eben fast alles hinnahmen –, was Obrigkeiten ihnen eintrichterten. So medizinisch unwahrscheinlich die Aussage mit den ausgefallenen Haaren auch sein mochte, damals gab es noch kein Google.
Ich mache keiner meiner Mütter einen Vorwurf, beide haben die Vertauschung zunächst nur geahnt, aber nicht mit Sicherheit gewusst. Ich denke, dass Mütter Babys annehmen, lieben und umsorgen, egal ob sie ihr eigen Fleisch und Blut sind oder nicht. Meine beiden Mütter, die, die mich großgezogen hat, und die, die mich geboren hat, arrangierten sich mit ihrer dunklen Ahnung, die für sie selbst sicher furchtbar war. Und für mich erst spät zur Gewissheit wurde.
Endlich Gewissheit
Die Wahrheit war in kleinen Schritten auf mich zugekommen. In Form von Tanten, die bei meiner Kommunion sagten: 'DU gehörst doch gar nicht in unsere Familie!' Oder einem Kioskbesitzer, bei dem ich gemeinsam mit Rudi*, meinem nicht leiblichen Bruder, Eis kaufte, und der dann zu Rudi sagte: 'Susanne war eben hier, ihr seht aus wie Zwillinge!' Meine Jugend war voller solcher Momente.
Mein leiblicher Bruder Detlef war Jahre später derjenige, der mit offenen Armen auf mich zuging, da waren wir längst erwachsen und auf der Beerdigung unseres Vaters, den ich nicht mehr wirklich kennenlernen durfte. Wir weinten. Ein Moment, in dem alle sahen, dass wir zusammengehören – als Bruder und Schwester. Ich musste also 36 Jahre alt werden, bis ich den Irrtum meines Lebens wirklich erkannte und kurz darauf mithilfe eines ersten Speicheltests auch offiziell aufklären konnte. Als ich das Ergebnis schwarz auf weiß vor mir sah, fuhr ich zu ihr, der Frau aus der Nachbarschaft, die für mich in erster Linie Susannes Mutter war. Wir wuchsen nämlich nur 200 Meter voneinander entfernt auf. Ich weiß noch, wie ich mein Fahrrad gegen die Hecke am Jägerzaun lehnte, wie mein Herz klopfte, als ich auf die Gartentür zuging. Ich siezte sie, meine leibliche Mutter, die mich als Nachbarsmädchen recht gut leiden konnte. Sie stand wortlos in ihrem Garten. Ein paar Jahre hatte ich sie nicht gesehen, aber sie war fast unverändert, immer noch hellblond, blauäugig, genau wie ich. Ich fragte: 'Wissen Sie, warum ich hier bin?' Sie sah mich lange an, seufzte schließlich: 'Ja.'
Doch dieser Moment hat nichts verändert. Es war keine Seifenoper, wir fielen uns nicht in die Arme, wir weinten nicht. Heute weiß ich, dass meine leibliche Mutter ihr angenommenes Kind Susanne mehr geliebt hat als mich. Ich finde das in Ordnung. Detlef aber ist bis heute nicht bereit, ihr dieses Schweigen zu verzeihen, nicht einmal posthum. Für mich wird die Mutter, die mich aufgezogen hat, immer 'die Mama' sein, obwohl es schlecht gelaufen ist für mich. Ich musste die Schule verlassen, obwohl ich gut war, musste Geld verdienen, weil mein Vater es so wollte – meine Mutter, also die Mama, hatte keinen Mut und keine Meinung.
Als Kriegskinder gehören unsere Eltern zu der Generation, die Schmerzen und Tabus unter den Tisch kehrt. 'Was sollen denn die Leute sagen über eine Familie mit vertauschtem Kind? Lachen sie uns aus?' Dieses Stigma hätten sie nicht verwunden. Detlef und ich aber haben das Schweigen gemeinsam gebrochen. Das hat uns zusammengeschweißt. Wir haben uns zwar spät gefunden, aber seitdem nicht mehr losgelassen, machen gemeinsam Urlaub, sprechen immer noch über unsere 'gestohlene' Kindheit. Detlefs Frau sagt immer: Gaby, du bist viel zu milde mit deiner Beurteilung dieser Sache. Doch warum soll ich mich über etwas grämen, das nicht mehr zu ändern ist? Es ist okay. Ich habe meinen Frieden gefunden.“
"Meine Mutter entwickelte eine bizarre Art, damit umzugehen"
Detlef wuchs in seiner leiblichen Familie auf und war sieben Jahre alt, als Susanne und nicht Gaby als Schwester in die Familie kam.
Zum ersten Mal sah ich meine Schwester, oder die, die ich dafür hielt, als eingewickeltes Bündel hinter einer Glasscheibe. Sie hatte schwarze Haare und weinte. Später erzählte meine Mutter, dass eine Nachbarin, die ein paar Häuser weiter wohnte, einen Tag nach ihr entbunden hatte. Die Frauen lagen wohl gemeinsam auf der Entbindungsstation. Ich sah die Nachbarin mit ihrem Baby häufig, immer wenn sie meine Mutter besuchte. Das Baby hieß Gaby und sah lustig aus – kräftig, blond, strahlend blaue Augen, genau wie ich. Im Vergleich zu Susanne weinte Gaby kaum.
Zwei, drei Jahre später, als ich mit meiner Mutter für die Schule übte, erzählte sie mir beiläufig, dass Susanne nicht meine richtige Schwester sei, sondern Gaby, dass die Kinder auf der Säuglingsstation vertauscht wurden. Ich fragte nichts. Knapp Zehnjährige verstehen die Tragweite derartiger Aussagen nicht. Wenn Mutter es so unaufgeregt rüberbrachte, würde es schon nicht so schlimm sein, dachte ich damals.
Und doch war es der Moment, in dem die Wahrheit wie eine Wurzel in mir gepflanzt wurde, die ab sofort unaufhörlich wuchs: Meine Schwester war nicht meine Schwester? Aber dafür ein anderes Mädchen, das 200 Meter die Straße runter wohnte? Meine Mutter entwickelte eine bizarre Art, mit dem Thema umzugehen. Sie erzählte Leuten häufig von der Vertauschung, auch später meiner Frau. Nur den Betroffenen selbst sagte sie nichts! Für meine Frau war das damals ein Satz wie ein Hammerschlag. Doch Mutter duldete keine Nachfragen. Aber man tuschelte hinter vorgehaltener Hand, Tanten sprachen bei Familienfesten die unverblümte Wahrheit aus. Gaby sah nun einmal aus wie wir, nur Susanne passte nicht in unsere Familie.
Es war nicht immer leicht
Bereits im Kindergarten hatte sie Schwierigkeiten. 'Detlef, bitte kümmere dich um Susi.' Susi braucht dies, braucht jenes: Alles drehte sich um Susanne! Sie fand keine Freunde und war schlecht in der Schule, aber meine Mutter hatte den Ehrgeiz, sie gut durchs Leben zu navigieren, wie einen besonders zerbrechlichen Schatz. Ich wurde kaum beachtet, bei mir lief ja alles. Susanne war Mutters Lieblingskind.
Noch heute frage ich mich, warum? Waren es mütterliche Bindungshormone ab Geburt, die das Band nicht mehr durchtrennen konnten? War es zu spät für einen Rücktausch, als sie es endlich erfuhr? Oder hat die Schizophrenie meines Großvaters ihren Teil dazu beigetragen, sich selbst immer wieder zu belügen? Ein Teil von ihr wusste es von Anfang an, da bin ich mir sicher – ein anderer Teil hat es weiter geleugnet. 'Belaste mich nicht', war Mutters Antwort, immer wieder, sobald das Thema später zur Sprache kam.
Wie gern wäre ich mit Gaby aufgewachsen. Zwar waren beide Familien einfache Bergmannsfamilien, aber unser Alltag war zumindest jenseits der Lüge sorgenfrei. Wir aßen gemeinsam Abendbrot, machten Familienausflüge, feierten im Schrebergarten, meine Mutter war lebenslustig, ging gern zum Kegeln. Mein Vater spielte Skat, sammelte Briefmarken, war eher ein ruhiger Typ. Meine Eltern sorgten dafür, dass wir eine Ausbildung bekamen. In der Familie, in der Gaby aufgewachsen ist, war das anders. Sie wurde trotz ihres hellen Köpfchens nicht gefördert, musste die Schule nach dem Hauptschulabschluss verlassen, weil sie Geld verdienen sollte.
Wir waren längst erwachsen, als Gaby und ich den offiziellen Kampf um die Wahrheit aufgenommen haben. Das hat viel böses Blut in den Familien hinterlassen, auch mit Susanne komme ich nicht mehr klar. Aber wie heißt es bei Aischylos: mächtig eint des Blutes Band. Ich werde nie verstehen, warum meine Mutter uns mit dieser Lüge großgezogen hat. Das tut mir bis heute weh."
*Die Namen der nicht leiblichen Geschwister wurden von der Redaktion geändert