Mit einem Ihrer Bestseller behaupten Sie: "Jeder ist beziehungsfähig". Allgemeiner Konsens ist das ja nicht.
Es gibt Menschen, die sind so stark traumatisiert, dass sie wirklich nicht beziehungsfähig sind. Doch die meisten können in einer Beziehung leben, auch wenn sie sagen, sie seien beziehungsunfähig. Ich spreche aber lieber von eingeschränkter Beziehungsfähigkeit oder Bindungsangst.
Was steckt denn dahinter?
Fast immer: ein Problem mit dem Selbstwertgefühl. So jemand denkt dann: "Ich bin nicht okay, so, wie ich bin. Früher oder später wirst du mich verlassen. Damit du das nicht tust, versuche ich, all deine Erwartungen zu erfüllen." Und dabei ver- liert er sich selbst.
Woher kommt diese Denke?
Die entsteht schon in der Kindheit.
Also sind die Eltern schuld?
Ja, sie tragen die Verantwortung dafür, wie das Gehirn ihrer Kinder geprägt wird. Wenn die Eltern zu wenig Geborgenheit geben, entsteht beim Kind das Gefühl, dass Liebe und Beziehung nichts ist, worauf man sich verlassen kann. Es muss sehen, wie es alleine klarkommt. Und wenn Eltern ihr Kind zu sehr an sich binden, entsteht quasi eine Allergie gegen Nähe. Aber auch die Beziehung der Eltern zueinander spielt eine Rolle. Kinder aus zerstrittenen Elternhäusern sind häufig bindungsängstlich. Sie haben vorgelebt bekommen, dass eine Beziehung nicht gut gehen kann.
Heißt das: Finger weg von Scheidungskindern?
Das kann man so nicht sagen. Oft leiden Scheidungskinder sogar seltener unter Bindungsangst als Kinder mit Eltern, die zusammengeblieben sind, sich aber nur streiten. Wenn die Scheidung friedlich ablief und die Eltern sich auch danach bemühen, gut miteinander auszukommen, merkt das Kind, dass man Krisen bewältigen kann.
Kann man Bindungsängstliche schon im Vorfeld erkennen?
Nur sehr schwer. Wenn jemand allerdings über sich selbst sagt, er sei beziehungsunfähig, brauche viel Freiraum, mache alles kaputt, wenn’s ernst wird, dann sollten die Alarmglocken klingeln.
Und wenn man vorher nichts gemerkt hat? Gibt’s später noch eine Chance, Bindungsängstliche zu enttarnen?
Wenn es in die nächste Stufe der Verbindlichkeit geht, verändert sich etwas. Beim einen löst das Wort Beziehung Panik aus, beim anderen ist es die gemeinsame Wohnung, bei wieder anderen die Hochzeit. Häufig stellt sich dann ein Schwächenzoom ein. Das heißt: selbst kleine Fehler des Partners werden extremer wahrgenommen. Der Bindungsängstliche zieht sich immer mehr zurück, oft schläft dann auch das Sexleben ein. Und das alles, obwohl er einem vorher das Gefühl vermittelt hat, wahnsinnig verliebt zu sein.
Täuschen sie vor, verliebt zu sein?
Nein, sie sind am Anfang tatsächlich verliebt, aber weil sie sich zunehmend in ihrer Freiheit eingeengt fühlen, erkalten ihre Gefühle allmählich. Das Problem ist: Sie können nur schlecht mit den Erwartungen ihrer Partner umgehen.
Woran liegt das?
Beziehungsängstliche sind der tiefsten inneren Überzeugung: Ent- weder ich bin in einer Beziehung oder ich bin ein selbstständiger Mensch. Beides geht in ihrem Fühlen und Denken nicht zusammen. Wir alle haben ein existenzielles Grundbedürfnis nach Bindung und Autonomie, doch das muss im Gleichgewicht sein. Bei Bindungsängstlichen ist es das nicht.
Wie kann man das Gleichgewicht wiederherstellen?
Der Bindungsängstliche muss an sich arbeiten, verstehen, dass das Problem in der Kindheit entstanden ist und nichts mit der Gegenwart zu tun hat. Das klappt mit Selbstreflexion oder, wenn man alleine nicht weiterkommt, auch mit einer Therapie. Und wenn der Betroffene das wirklich will, wird er begreifen, dass man kompromissfähig sein und trotzdem auch für sich und seine Meinung einstehen kann.
Stefanie Stahl bringt mit der BRIGITTE-Redaktion das Coaching-Magazin "BRIGITTE Leben!" heraus. Nächste Ausgabe: 22. April.
Holt euch die BARBARA als Abo - mit vielen Vorteilen. Hier könnt ihr sie direkt bestellen.