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Experiment Eine Woche lügen: Das glaubst du doch selbst nicht

Eine Woche lügen: Eine junge Frau mit locken hält ihren Zeigefinger vor den Mund
© Wayhome Studio / Adobe Stock
Unsere Autorin wollte es sich bequem machen und allen um sich herum eine Woche lang Märchen erzählen. Aber wird der Alltag durch konsequentes Flunkern wirklich leichter?

Das hier ist mein letzter Versuch. Eine WG-Party in Neukölln, aus der Boombox singt Coolio "Gangsta’s Paradise", ich sitze an einem Tisch mit zehn fremden Menschen. Im Kopf gehe ich meinen Text durch, "Lexy, 25, Polizistin". Das ist komplett gelogen. Eigentlich bin ich Toni, 36, Journalistin. Aber ich wollte mich heute als jemand ganz anderes ausgeben, eine Nacht eine andere Person spielen, nur zum Spaß. Und als Polizistin in Berlin auf einer Privatparty aufzutauchen war mir gerade absurd genug.

Aktuell kommt mir mein Fantasieberuf allerdings wesentlich entspannter vor als das, was ich hier veranstalte. Ehrlich gesagt sterbe ich tausend Tode. Es graut mir vor dem Moment, an dem mich jemand fragt: "Und, was machst du so?" Dabei sollte das der Höhepunkt einer spaßigen Woche werden, in der ich mir jede Notlüge, jedes Flunkern und jede Übertreibung erlaube, um mir mein Leben leichter oder spannender zu gestalten. Es war eine verdammt schwere Woche.

Dass ich die völlig falsche Person für dieses "Flunker-Experiment" bin, hätte mir eigentlich klar sein müssen. Als mich meine Mutter in meiner Jugend einmal high erwischte, antwortete ich auf ihre Frage, ob ich etwa Drogen genommen hätte, begeistert: "Ja! Haschkekse! Wir haben noch welche!", und überreichte ihr die gesamte Backware. Erst kürzlich habe ich im Club an der Bar satte 15 Minuten darauf gewartet, dass sich die Barfrau mir noch einmal zuwendet. Nur, um ihr zehn Euro zurückzugeben, die sie mir zu viel rausgegeben hatte. Und auf Social Media würde ich mich zu Tode schämen bei dem Versuch, meine Wohnung, Karriere oder Haut besser aussehen zu lassen, als sie ist.

Lügen unerwünscht?

Ich kann nicht mal lügen, wenn es erwünscht ist. Im Sommer hat meine Familie ein Kartenspiel entdeckt, bei dem man seine Karten unauffällig wegschummeln muss. Ich habe keine einzige Karte losbekommen. Sobald ich zu einem "Manöver" ansetzte, war ich mir sicher, alle würden mich anstarren. Immerhin ging es nicht nur mir so. Mein sechsjähriger Neffe sprach mir nach zwei Runden aus dem Herzen: "Aber ich WILL nicht schummeln!" Genauso geht es mir nun bei dem Experiment: Bei fast allen Treffen versuche ich eine Stunde lang, irgendwo eine Art Lüge unterzubringen, bevor ich mit den Nerven am Ende bin und meinem Gegenüber beichte, was ich eigentlich vorhatte.

Meine Freunde kennen das schon von mir, im Alltag sieht es nicht anders aus. Wer mich an schlechten Tagen fragt, wie es mir geht, muss mit der unangenehmen Stille klarkommen, die auf die Antwort entsteht: "Gar nicht gut." Wenn mir ein Geschenk nicht gefällt, verrät es meine Reaktion garantiert. Und wer mich nach meiner Meinung fragt, muss damit rechnen, etwas zu hören, was er nicht hören will. Bisher habe ich das für einen besonders ehrenwerten Charakterzug von mir gehalten. Nach dieser Woche sehe ich das anders. Um es mit einem Kalenderspruch zu sagen, der Voltaire zugeschrieben wird: "Alles, was du sagst, sollte wahr sein. Aber nicht alles, was wahr ist, solltest du sagen."

Meine Meinung zurückzuhalten war die größte Herausforderung der Woche. Sollte ich in ein paar Monaten ein Magengeschwür entwickelt haben, führe ich das auf dieses Experiment zurück und taufe es liebevoll Barbara. Allerdings lernt man auch einiges beim Nicken und Zuhören. Bei einem Treffen mit meiner Schwester erzählt sie mir, wie genervt sie davon ist, als zweifache Mutter und Vollzeitarbeitende von Instagram nun auch noch das Thema Selbstfürsorge aufgedrückt zu bekommen. Bevor ich anfangen kann zu diskutieren, sagt sie: "Das hilft mir nicht, setzt mich unter Druck, das ist nur wieder ein To-do mehr!" – "Genau!", stimme ich kleinlaut zu und bestelle schnell das Buch "Radikale Selbstfürsorge" ab, das ich ihr zum Geburtstag schenken wollte.

Ein Hang zur Wahrheit

Ähnlich läuft ein Notfalltreffen mit einer Freundin im Park. Sie erzählt mir vom Streit mit ihrem Freund, von dem ich kein großer Fan bin. Kurz bevor ich wieder eine meiner Reden schwinge, dass sie etwas viel Besseres verdient hätte, beiße ich mir auf die Zunge. Hilft ihr das jetzt wirklich? Vor allem, weil ich doch weiß, dass sie ihre Beziehung nicht aufgeben will? Ist mein angeblicher Hang zur Wahrheit in Wirklichkeit fehlende Empathie? Statt sie zu belehren, halte ich diesmal die Klappe und lass sie ihren Schmerz teilen. Weil ich selbst weiß, dass wir manchmal keine Lösungen wollen, sondern nur jemanden, der zuhört.

Einige Dinge macht mir das Experiment tatsächlich leichter. Einem Kunden, der schlecht zahlt und dessen Aufträge nie Spaß machen, sage ich ab mit der Erklärung, ich hätte keine Zeit. Meine Mutter, die seit Ewigkeiten möchte, dass ich mein Erspartes anlege, lasse ich einfach reden, anstatt direkt abzuwiegeln. Im Gespräch mit Oma stelle ich spontan in Aussicht, bald zu Besuch zu kommen, obwohl das zeitlich ziemlich eng werden dürfte. Kurzfristig habe ich damit alle glücklich gemacht. Aber wie geht das jetzt weiter? Da dieses Experiment für mich nächste Woche endet, muss ich entweder alle weiter hinhalten – oder in Gold investieren, mit dem Kunden neu verhandeln und ein Wochenende für Omi freischaufeln. Langfristig gesehen sicher die besseren Optionen.

Auch wenn die Woche für alle etwas reibungsloser ablief, bin ich nicht überzeugt vom Flunkern als zwischenmenschlichem Schmiermittel. Meistens lügen wir, um Menschen nicht zu verletzen und um es selbst bequemer zu haben. Auf Dauer klappt das aber nicht. Wir sollten uns öfter fragen, wann wir mit dem Lügen ein System stützen, das eigentlich nicht funktioniert. Wieso denke ich denn, dass ich keine Zeit für Omi habe? Kann ich daran etwas ändern? Wieso weint meine Freundin ständig wegen ihres Freundes? Können die beiden daran etwas ändern? Wieso möchte ich die Aufträge des Kunden nicht annehmen? Kann er daran etwas ändern? Nicht immer, aber oft sind Lügen Öl im Getriebe, wo eigentlich Sand sein sollte. Wir brauchen das Knirschen und die Reibung, um zu sehen, wo es eben nicht läuft, wo sich etwas ändern muss.

Das ist doch keine Diskussion wert

Während ich mit Selbstkritik und philosophischen Erkenntnissen beschäftigt bin, hat mein Partner die Woche seines Lebens. So "pflegeleicht" war ich noch nie. Ob Haushalt, saloppe Sprüche, ein ausgearteter Abend mit den Kollegen – mein Motto lautet neuerdings: "Ach was, das ist doch keine Diskussion wert!" Rückblickend muss ich zugeben, dass das oft sogar stimmt. Was mich morgens noch aufregt, ist mir abends längst egal. Ich lerne: Nicht jede Gefühlsregung ist einen Streit wert, und etwas weniger Wertung tut allen gut.

Zurück in der WG-Küche. Meine Freundin, die mich hier hingeschleppt hat, ist eingeweiht in mein Flunker-Experiment. Jetzt beugt sie sich zu mir rüber und fragt verschwörerisch: "Na, schon gelogen?" Ich, mit dem gleichen Gesicht wie mein Neffe beim Schummelspiel: "Nee! Ich WILL das nicht! Wie soll das gehen …?" Ohne eine Sekunde zu zögern, dreht sie sich zu einem Kumpel um und eröffnet ihm: "Ich überlege, ein Tantra-Studio aus meiner Bar zu machen." Ich bin beeindruckt, auch weil nicht mal eine Nachfrage zu ihrem absurden angeblichen Plan kommt. Mitziehen kann ich trotzdem nicht – ich knicke schon ein, als mich der erste Mensch nach meinem Namen fragt. Meine Angst, diese lieben Leute auszunutzen und uns alle in eine blöde Situation zu bringen, ist zu groß.

Anstatt die Nacht damit zu verbringen, den Leuten Märchen über mich zu erzählen, gebe ich also auf und genieße lieber ein paar echte Momente mit ihnen. Immerhin eine Notlüge kommt dabei trotzdem herum: Mit einem Gast unterhalte ich mich angeregt über die Band Florence + The Machine, bis sie vorschlägt, "You’ve Got the Love" für die ganze Party zu spielen. Leider der einzige Song, den ich gar nicht mag, aber ich sehe die Begeisterung in ihren Augen und stimme zu: "Gute Idee!"

Antonie Hänel hat während des Experiments des Öfteren erwägt, sich den Text dazu einfach auszudenken. Aber sie konnte nicht

Barbara

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