"Ich dachte, ich komme mal wieder vorbei, du meldest dich ja nie", sagt sie, kaum, dass die Wohnungstür schwungvoll geöffnet wurde, und du fragst dich, warum du deiner Mutter jemals den Schlüssel (der eigentlich für Notfälle gedacht war) überreicht hast.
"Hast du in letzter Zeit noch Kontakt zu Tom? Ich fand den ja richtig sympathisch", sagt er, als du deinem Vater den Verlobungsring – von Paul, den du seit vier Jahren datest – präsentierst.
"Ich habe mein Leben und meine Karriere aufgegeben, damit deine Schwester und du eine unbeschwerte Kindheit haben können. Ich finde, es ist nicht zu viel verlangt, dass ihr mal wieder zu Besuch kommt", sagt sie, kaum, dass du Luft geholt hast, um deiner Mutter zu erklären, dass dir die Arbeit gerade bis zum Hals steht und du dieses Wochenende wirklich gerne mal wieder für dich hättest.
Nur drei von mannigfaltigen Beispielen von lieben Eltern, für die es Grenzen vielleicht im Atlas gibt, aber sicherlich nicht in den Beziehungen mit ihrem "eigen Fleisch und Blut".
Nur für Fortgeschrittene: Für sich einstehen und "Nein!" sagen
Grenzen setzen fällt nicht wenigen Menschen schwer – im Job, wenn der:die Vorgesetzte zum drölften Mal einen Haufen Arbeit auf unseren Schreibtisch platziert ("Bis morgen ist das fertig, nä?"), in unseren Freundschaften, wenn wir dem Kumpel bei seinem sechsten Umzug in diesem Jahr helfen ("Du bist halt der:die Einzige mit Auto!") und auch in unseren romantischen Beziehungen ("Wenn du mich lieben würdest, würdest du den Kontakt zu deinem Ex abbrechen."). Besonders viele Menschen scheitern am Ziehen der Grenze zu ihren Eltern – aber warum eigentlich? Und wie können wir die Nabelschnur des schlechten Gewissens endlich durchtrennen?
Warum fällt es uns eigentlich so schwer, unseren Eltern "Nein" zu sagen?
Wenn deine Eltern nicht gerade von der toxischen Natur sind und dich als Besitz oder Erweiterung ihrer Existenz betrachten, dann haben sie womöglich ziemlich viel dafür getan, dass es dir in deinem Leben gut geht:
- Sie haben dich in diese Welt gebracht
- Sie haben dich ernährt und sich um dich gekümmert
- Sie haben dich finanziert
- Sie haben eine Menge Opfer gebracht, um dich am Leben zu halten
Eine ziemliche Liste, die individuell erweiter- oder kürzbar ist. Zusammengefasst erklärt es aber, warum die meisten von uns bei den eigenen Eltern das Gefühl haben, in einer "Bringschuld" zu sein.
Und im Gegensatz zu Freundschaften ist es für viele in der Beziehung mit den eigenen Eltern sehr schwer, diese auf Augenhöhe zu leben. Denn wir alle – ob Multimilliardär:in oder Despot:in – waren einmal winzige, kackende, sabbernde Würmchen, die zu nichts, aber auch gar nichts selbstständig in der Lage waren. Und unsere Eltern haben sich (im besten Fall) um uns nichtsnutzige süße Wesen gekümmert, haben uns geliebt und umsorgt.
Das lässt sich schwerlich ignorieren, wenn unsere lieben Eltern mal wieder zu Tisch einen Spruch bringen, den wir unter anderen Umständen als sexistisch, rassistisch, queerfeindlich, respektlos und/oder grenzüberschreitend klar benennen und kritisieren würden.
"Für erwachsene Kinder kann es sich schier unmöglich anfühlen, ihren Eltern Grenzen aufzusetzen", erklärt Dr. Stephani Jahn auf ihrer Homepage. Die Gesundheitsberaterin hat sich auf das Überwinden von Traumata spezialisiert, die ihren Ursprung in der Familie haben. "Das Kind in uns fürchtet stets die Ablehnung unserer Eltern, wenn wir sie wütend machen", erklärt sie weiter. Und die fürchteten wir (damals) zu Recht, denn Ablehnung bedeutet im Kleindkindalter schlicht den ziemlich sicheren Tod.
Aber: Wir sind keine Kleinkinder mehr. Wir sind Erwachsene, die für ihr eigenes Seelenheil selbst verantwortlich sind. Und dazu kann und muss es manchmal gehören, den Eltern einen Riegel vorzuschieben. Nur wie?
Eltern Grenzen setzen: Warum es so wichtig ist

Zunächst einmal ist es wichtig, sich klarzumachen, dass es für die Beziehung mit deinen Eltern nur gut und wichtig ist, gewisse Grenzen zu ziehen. Das klingt erst einmal widersprüchlich: Wie soll es denn der Beziehung mit meinen Eltern zugutekommen, wenn ich sie mit meinen Bedürfnissen vor den Kopf stoße? Sozialarbeiterin Judith Aronowitz fasst das auf ihrer Internetseite gut zusammen:
- Du verhinderst, dass eure Beziehung zueinander bitter wird
- Ihr habt die Möglichkeit, eine gesündere und dauerhafte Bindung zu schaffen
- Du tust etwas für deine eigene Autonomie, auch über die Beziehung mit deinen Eltern hinaus
- Du bleibst dir selbst treu und stehst für dich ein
Hart gesagt, kann es schwerwiegende Konsequenzen für die Beziehung zu deinen Eltern haben, wenn du offensichtliche Probleme in der Beziehung ignorierst – entweder "nur" für dich als Individuum oder im Umgang mit deinen Eltern und anderen Beziehungsformen. Du bist es dir selbst schuldig, klare Grenzen aufzubauen, ganz besonders dann, wenn deine Eltern Verhaltensweisen aufzeigen, die man gut und gern als toxisch beschreiben kann.
So setzt du Grenzen bei deinen Eltern
Nun kommt der schwierige Part, den dir leider niemand abnehmen kann: Du musst das Gespräch mit deinen Eltern suchen. Und auch, wenn du in diesem Moment vielleicht allein bist, hilft es dir sicherlich, dich gut auf diese Unterhaltung – die vielleicht weniger unangenehm wird, als du zuvor gedacht hast – vorzubereiten.
1. Du solltest du dir darüber im Klaren sein, dass ihr ungesunde Aspekte in eurer Beziehung habt
Die oben genannten Beispiele sind wie bereits erwähnt nur drei von mannigfaltigen Situationen und Aussagen, die man als grenzüberschreitend bezeichnen könnte. Wichtig ist, wie du dich dabei fühlst. Du magst kein Problem damit haben, dass deine Mutter unangekündigt erscheint, emotionale Erpressung ist für dich dann aber doch ein No-Go. Jede:r hat individuelle Grenzen, und der erste Schritt ist, dass du dir über deine eigenen klar wirst.
2. Definiere deine Werte und Bedürfnisse
Was genau stört dich daran, wenn dein Vater von einem Ex-Freund spricht, während du aktuell in einer glücklichen Beziehung mit einer anderen Person bist? Würdest du deine Eltern unter anderen Umständen gerne besuchen, stellst aber auf Durchzug, wenn du das Gefühl hast, man zwingt dich dazu?
Kurzum: Was ist dir in einer Beziehung wichtig? Was wünschst du dir von der anderen Seite, was bist du bereit, zu geben? Je klarer du dir darüber bist, desto leichter fällt es dir, es zu formulieren.
3. Zieh die Grenze – aber mit Verständnis
Die wenigsten Eltern wollen ihr Kind mit ihrem Verhalten nerven oder gar verletzen. Wir sind und bleiben die Kinder, und das ist grundsätzlich auch in Ordnung. Deswegen solltest du – zumindest beim ersten Mal – deine Grenze verständnis- und liebevoll formulieren. Ein paar Ideen:
- "Ich verstehe, dass du dir Sorgen machst, wenn du nichts von mir hörst. Wir können ja gemeinsam überlegen, wie oft es für uns beide 'genug' ist und einen gemeinsamen Kompromiss finden. Aber wenn du weiterhin unangekündigt bei mir zu Hause auftauchst, muss ich dich leider darum bitten, den Schlüssel zurückzugeben, denn der ist nur für Notfälle gedacht."
- "Ich weiß es zu schätzen, dass du dir Gedanken um mein Liebesleben machst, und ich weiß, dass du es nur gut meinst und dir Glück für mich wünschst. Aber wenn du weiterhin meine Verflossenen erwähnst, wenn ich dir von meiner aktuellen Beziehung erzähle, dann werde ich zukünftig nichts mehr zu meinen Beziehungen mit dir teilen können."
- "Du hast wirklich viel für mich getan, als ich noch ein Kind war, und dafür werde ich dir immer dankbar sein. Aber es fühlt sich für mich unangenehm an, wenn ich das Gefühl bekomme, dass du mir diese Taten zum Vorwurf machst. Du kannst mich gerne um Sachen bitten, und ich werde sie auch – soweit sie mir möglich sind – gerne tun. Aber auf diese Weise fühlt es sich für mich nicht schön an, und ich werde sie nicht mehr machen."
Versuche, die Grenzen erst nach und nach zu ziehen, wenn es in eurer Beziehung mehrere "Baustellen" geben sollte. Deine Eltern müssen sich schließlich erst einmal daran gewöhnen. Und bleib stark! Vielleicht braucht es ein paar Anläufe, aber wenn auch deine Eltern an einer guten Beziehung interessiert sind (wovon man hoffentlich ausgehen kann), dann hast du mit deiner offenen Kommunikation für den ersten, wichtigen Schritt dafür gesorgt. Glückwunsch!
Verwendete Quellen: psychcentral.com, apathwaytoyou.com, juditharonowitztherapy.com