Am ersten Tag nach ihrer Verabschiedung in den Ruhestand fuhr Ingrid Ziegler erst mal zur Arbeit. Nicht aus Versehen, sondern mit Absicht. Auf den Fluren: Wochenendstimmung, es war ein Samstag. "Ich wollte mich noch mal ganz alleine verabschieden", erzählt sie, "und ein Foto vom Türschild vor meinem Büro machen, zur Erinnerung." Doch das Türschild mit ihrem Namen war schon weg. Darauf musste sie sich einen Kaffee genehmigen, ihre Maschine stand noch da. Die hatte sie ihren Kollegen vererbt, damit ihnen etwas von Ingrid bleibt. So war das bis dahin: Wer was auf dem Herzen hatte, bekam von Ingrid eine Tasse Kaffee.
Einfach mal nichts tun
Ingrid Ziegler ging immer gern zur Arbeit. Nur in den letzten Monaten war sie ab und zu genervt. Nämlich dann, wenn jemand fragte: "Und was machst du dann? Schon ein Ehrenamt gefunden?" Für die 65-Jährige klang das zu sehr nach: Leistungsdruck für die Rente. "Dabei will ich jetzt einfach mal nichts tun, mich bewusst langweilen", sagt sie, "doch das wird in unserer Gesellschaft heutzutage als etwas Negatives angesehen, schade." Aber eigentlich ist ihr egal, was andere sagen und denken. Sie starrt gern Löcher in die Luft, und wenn sie darauf keine Lust mehr hat, macht sie Sachen, für die sie während des Berufslebens kaum Zeit hatte: "Lesen, stricken, fernsehen, richtig lange mit meinem Hund Bubi spazieren gehen." Und für später kann sie sich vorstellen, im Kindergarten Geschichten vorzulesen, "aber eben erst, wenn mir danach ist". Eigene Kinder und Enkel hat sie nicht.
Abschied nehmen
"Am ersten Tag nach meinem letzten Tag saß ich dann bestimmt eine Stunde in meinem Büro", erzählt sie, "Erinnerungen aus 46 Jahren Berufsleben flogen in meinem Kopf herum." So lange hatte sie bei der LVM-Versicherung gearbeitet – direkt nach der Ausbildung hin und dann bis zur Rente nicht wieder weg. Ihr erster Jobtitel: Sachbearbeiterin in der Abteilung Kraftfahrt. Autoversicherungen also. Später wechselte sie die Abteilung und wurde Koordinatorin zwischen der EDV und ihrer alten Fachabteilung. Wer so lange in einem Laden arbeitet, lernt dort seinen halben Freundeskreis kennen – Ingrid Ziegler sogar ihren Mann.
Auf ihrem alten Bürostuhl sitzend wurde ihr klar, dass es wirklich das letzte Mal sein würde – sie, hier, an diesem Schreibtisch. "Bei dem Gedanken musste ich schwer schlucken. Doch dann habe ich zu mir selbst gesagt: Ingrid, jetzt ist auch mal gut." Einen Mini-Job hatte sie allerdings noch zu erledigen: den engsten Kollegen persönliche Karten schreiben. Die verteilte sie zusammen mit frischen Blümchen auf den Schreibtischen, fertig. Das war’s. "Ich habe mir meine Lieblingstasse geschnappt und bin raus."
Die Angst vor dem Alleinsein
"Hinfallen, Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen" steht auf der Tasse, aus der sie nun auch zu Hause ihren Kaffee trinkt. Ein Geschenk von einer Arbeitskollegin, "nachdem sich mein Mann kurz vor unserer Silberhochzeit von mir trennte". Kurzer Blick zu Hündchen Bubi, der zu ihren Füßen im Körbchen liegt, bevor sie weitererzählt: "Wäre das nicht passiert, wäre ich schon früher in Rente gegangen. Nämlich im März 2018." Doch der Ruhestand musste warten. Schuld waren: die Sorge, dass das Geld nicht reicht, weil sie das gemeinsame Haus behalten wollte, und irgendwie auch die Angst vor dem Alleinsein. In den letzten Jahrzehnten waren Ingrid Zieglers Büro-Arbeitstage durchgetaktet. Und zwar so: Um 5:30 Uhr klingelte der Wecker. Den schrillen Alarmton schnell ausschalten, liegen bleiben, eine Viertelstunde später doch aufstehen. Schnell runter in die Küche, einen Kaffee zum Frühstück, sich bürofertig machen. Ein paar Minuten mit dem Hund raus, ihn zum Hundesitter bringen, dann ins Büro fahren.
7:00 UHR: Arbeitsbeginn. Papierkram, Meetings, Telefonate, Mails, Kaffeetrinken nicht vergessen.
12:10 Uhr: Kantine mit den Kollegen. "Das war unsere Zeit, da haben wir uns ganz genau dran gehalten." Halbe Stunde Mittagspause. Wieder: Papierkram, Meetings, Telefonate und noch mehr Kaffee bis zum Feierabend. Um 15:30 Uhr: Heimfahrt, Hund abholen, eine große Runde gehen, gern eine Stunde oder mehr. Bisschen Haushalt, bisschen kochen, um 18:00 Uhr Abendessen. Danach: Freunde treffen, Handwerkskurs, Fitnessstudio oder fernsehen. Noch kurz mit dem Hund vor die Tür – und um 22:00 Uhr dann: ab ins Bett. Aber: "Licht aus und auf Kommando einschlafen, das hat bei mir selten geklappt. So gerne ich auch gearbeitet habe, manchmal liegt man doch wach und denkt über Arbeitskram nach, schließlich beschäftigt man sich ja tagsüber lange damit." Mit Tag eins der Rente hat sich das geändert. "Ich muss ja jetzt nicht mehr früh aufstehen, deshalb verspüre ich auch keinen Druck, ganz schnell einschlafen zu müssen. Und ohne diesen Druck schlafe ich schneller ein."
"Träume gehen nie in Rente. Ich schon."
Ihre Arbeit zog sie voll durch – bis zum Schluss. Urlaubstage und Überstunden aufsparen, um so früh wie möglich und klammheimlich zu verschwinden – nicht ihr Ding. Sie verabschiedete sich mit einer großen Büroparty, anstoßen mit Sekt und Kaffee und 100 Leuten. Ihr Abschiedsmotto: "Träume gehen nie in Rente. Ich schon." Schließlich kommt jetzt die Zeit, in der sie sich ihre Wünsche erfüllt. Sie möchte was von der Welt sehen. Ihr erstes Ziel ist Thailand. Die Reise hat Ingrid schon gebucht. Außerdem möchte sie einen Tango-Tanzkurs besuchen. Irgendwann. Gerade genießt sie ja noch die Langeweile.
Die Abschiedsgeschenke ihrer Kollegen hat sie neben dem Kamin aufgestellt. Dazu gehören auch zwei selbst gemachte Abschiedszeitungen. Das eine Titelblatt zeigt Ingrid im Garten, mit einem Sektglas in der Hand. Titelzeile: "Meine ersten 100 Tage als Rentnerin". Darin: Gedichte, Erinnerungen, alte Fotos – und ganz viel Platz für eigene Gedanken. Auf dem anderen Cover steht nur: Ingrid. Es ist ein Ringbuch mit Steckbriefen aller Kollegen und einer Fotostory. "Irgendwann, wenn mir danach ist, will ich alles von vorne bis hinten durchlesen, ganz in Ruhe. Aber noch nicht jetzt." Ein Satz fiel ihr allerdings schon ins Auge – ein Ratschlag für die Rentenzeit: "Wenn dir langweilig ist, kannst du uns auf der Arbeit besuchen kommen." Sie lacht.
Den Alltag neu gestalten
Die gute alte Arbeitszeit war am ersten Dezember 2019 für Ingrid Ziegler offiziell vorbei. Doch ihren Rentner-Alltag musste sie erst mal neu gestalten, aber bitte weniger durchgetaktet: "Meinen Funkwecker habe ich gleich entsorgt. Der ärgert mich nun nicht mehr. Und meine Armbanduhr habe ich auch noch nicht wieder umgetan." Jetzt wird sie eben wach, wenn sie wach wird. Und dann macht sie sich natürlich erst mal einen Kaffee. "Ich habe mir extra eine Kaffeemaschine fürs Schlafzimmer gekauft. Denn ich habe meinen Kollegen immer gesagt: Als Rentnerin trinke ich meinen ersten Kaffee morgens im Bett." Ihren Büropegel, zehn Tassen, will sie beibehalten. Danach schaltet sie nun das "Morgenmagazin" ein und schaut ein bisschen fern.
Gegen halb zehn geht sie in die Küche für ein ausgiebiges Frühstück. Eine Stunde – mindestens. Schließlich liest sie jetzt alle Artikel in den "Westfälischen Nachrichten", die sie interessieren. Und dann? Das entscheidet sie immer wieder aufs Neue. "Mir werden jeden Tag acht Stunden geschenkt. Die kann ich einfach so verstreichen lassen – oder für Dinge nutzen, die ich mag", sagt sie und schaut in Richtung Bubi. Denn auch er profitiert von Frauchens Ruhestand: kein Hundesitter mehr, doppelt so viele Streicheleinheiten und extralange Gassirunden.
MARLENE KOHRING hat seit dem Besuch bei Frau Ziegler einen fluffigen Plan für die Rente: Hund zulegen.