Das letzte Mal sah ich meinen Vater an Weihnachten vor zwei Jahren. Es war ein Pflichttermin, wie immer, zusammen mit Oma saßen wir im Wohnzimmer bei Kaffee und Kuchen. Ich hangelte mich durch den üblichen Fragenkatalog, Job, Beziehungsstatus, WG-Situation. Sie machten sich Sorgen, ich könnte nie eine eigene Bleibe finden, da der Staat sich ja nur noch um „die Flüchtlinge“ kümmere. Ich bin es gewohnt, solche Kommentare zu ignorieren, doch diesmal war es anders. Mein Vater steigerte sich hinein, schimpfte vehement und übel auf „diese Ausländer“, seine Mutter stimmte mit ein. Es war unerträglich – und für mich der Zeitpunkt, an dem ich beschloss: bis hier und nicht weiter. Ich stand auf und sagte „Das ist mir zu sehr AfD hier“, ließ die Geschenke zurück und ging.
Seitdem haben wir keinen Kontakt mehr, ich ignorierte die Anrufe, die am Anfang noch kamen. Einmal begegnete meine Mutter meinem Vater zufällig in unserer Heimatstadt, er beklagte sich, nichts mehr von mir gehört zu haben. Sie sagte, er brauche sich nicht zu wundern.
Das Verhältnis war immer schwierig
Jahrelang bemühte ich mich um ihn, rief ihn regelmäßig an, bereute es fast immer. Erwischte ich ihn nach 21 Uhr, lallte er ins Telefon, erzählte schräges Zeug, weil er sich, wie jeden Abend, mit einer Flasche „Goldkrone“ in den Keller verkrümelt hatte. Er ist seit vielen Jahren arbeitslos, hat kaum soziale Kontakte, lebt allein in dem Haus, das für uns als Familie vorgesehen war und das meine Mutter mit mir verließ, als ich vier Jahre alt war.
Das Verhältnis zu meinem Vater war immer schwierig. Fuhren wir mal zusammen in den Urlaub, sagte er gemeine Sachen zu mir – ich sei ein Unfall gewesen, ich sei zu dick, wie hübsch doch diese Maxi aus der Reisegruppe sei.
Vatergefühle hatte er nie. Es gibt ein Video, das zeigt, wie ich ihm als Kleinkind auf einer Familienfeier mit einem „Raffaello“ hinterherrenne und „Papa, Papa“ rufe. Plötzlich schnappt er sich das Teil und knallt es auf den Tisch, ohne mich nur einmal anzusehen. Ich weiß auch, dass er im Bett liegen blieb, damals, 1988, als meine Mutter Wehen bekam. Sie fuhr allein ins Krankenhaus. Auch wenn das alles weit in der Vergangenheit liegt, tut es weh, solche Geschichten zu hören. Von einem Elternteil nicht gewollt gewesen zu sein vergiftet das Selbstwertgefühl.
Musik, das war eine Verbindung zwischen uns
Wenn ich an ihn denke, habe ich dennoch Mitleid, weil ich weiß, wie einsam er ist, dass er Depressionen hat, mehr als das. Doch ich möchte nicht riskieren, dass ein Gespräch mit ihm meine eigenen Psycho-Baustellen aufreißt. Mich zurückzuziehen ist eine reine Selbstschutzmaßnahme. Ich muss mich nicht um ihn kümmern, nur weil wir blutsverwandt sind, wenn mir das nicht guttut. Er braucht professionelle Hilfe, die kann ich ihm nicht geben – und er müsste sie ja überhaupt erst mal wollen.
Ich habe auch gute Kindheitserinnerungen, vor allem an meine Oma. Doch ich kann es nicht ertragen, dass Menschen, mit denen ich verwandt bin, Rassisten sind. Ich schäme mich unendlich für sie. Der Kontaktabbruch löst die Probleme nicht, aber manchmal ist Flucht die einzige Rettung.
Im Sommer 2018 sah ich die Rolling Stones im Hamburger Stadtpark, eine Band, die mein Vater als junger Mann sehr geliebt hat. Musik, das war immer eine Verbindung zwischen uns. Mick Jagger zappelte als kleiner Punkt in der Ferne, ich musste weinen. Ich schaute mich im Publikum um und dachte, wie schön wäre es, wenn einer dieser hier peinlich tanzenden, älteren Männer in ranzigen Lederjacken mein Vater wäre.