Barbara: Lieber Hans, ich finde es sehr schön, dass wir hier zusammensitzen. Denn das ist meine Natur. Ich meine: das Leben im Rudel. Wenn ich morgens wach werde, freue ich mich schon auf die anderen, mit denen ich den Tag verbringen werde.
Hans: Geht mir auch so. Aber hast du überhaupt keine Lust auf Einsamkeit ab und zu?
Nie. Es gibt doch diese Menschen, die irgendwohin allein in den Urlaub fahren, um einsam am Strand spazieren zu gehen. Da schüttelt es mich. Nein, für mich ist der Idealzustand erreicht, wenn alle da sind und die auch noch jemanden mitgebracht haben.
Stehst du denn gern im Mittelpunkt?
Nein.
Weil du es sonst immer tust.
Ganz genau. Ich liebe es, in der Masse der Anwesenden zu verschwinden, in ihr aufzugehen. Ich schmeiße für mein Leben gern Partys bei uns, aber da nimmt man mich im Idealfall nur als Dienstleisterin wahr, die ab und zu Schnittchen anreicht.
Dieses Verschwinden, dieses Auflösen: Das hat ja fast schon etwas Buddhistisches …
Eher nicht. Ich bin Einzelkind und stand schon ziemlich im Fokus meiner Eltern. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass ich in eine sehr große Familie eingeheiratet habe. Da bin ich eine von vielen, und das ist ein ganz tolles Gefühl. Aber wie ist es bei dir? Wie bist du aufgewachsen?
Vor allem in der Gemeinschaft mit Frauen. Meine Mutter, meine Oma und meine Tante waren die großen Bezugspersonen.
Und der Vater?
War kaum da. Er war ja berufstätig. So war das damals halt, und irgendwann waren meine Eltern dann auch getrennt. Aber meine Community habe ich mir weitgehend woanders zusammengebastelt.
Wo denn?
In der Schule. Ich war Schulsprecher, und mir war Gemeinschaft damals irre wichtig, um Dinge zu verändern. Mir war immer klar: Das geht einfach nicht allein. Ich habe in der Schule auch Veranstaltungen moderiert oder Feiern organisiert, aber eher aus dem Grund, weil die keinen anderen dafür gefunden haben. Im Grunde wollte ich nämlich das Gleiche wie du: dabei sein, aber nicht im Fokus stehen.
Ich habe bei der Klassensprecherwahl nie mehr als zwei Stimmen bekommen. Aber das war okay, ich war trotzdem eingebunden. Und das fühlte sich sehr gut an. Deshalb konnte ich auch nie verstehen, dass es schon damals Leute gab, die so ein Einzelgängertum kultiviert haben.
Dabei kann auch das was ganz Schönes sein – also, wenn man diese Leute nicht Einzelgänger nennt, sondern Individualisten. Aber sag mal …
Ja?
Soll es hier nicht eigentlich um das Gegenteil gehen? Stichwort: alle zusammen.
Richtig.
Also auch darum, wie wir uns nach der Vereinzelung der vergangenen beinahe zwei Jahre wieder gemeinsam am Lagerfeuer zusammenfinden, wie wir alle wieder zurückkehren zur Normalität …
Mit dieser aufgekeimten Hoffnung, wir alle hätten dauerhaft mehr Achtsamkeit und Liebe füreinander entwickelt …
Das ist ja leider wirklich nicht passiert.
Stattdessen hat sich ein Spalt aufgetan, mit dem ich so nicht gerechnet hätte. Ich habe Meinungen gehört, die ich bei den jeweiligen Meinungsäußerern niemals erwartet hätte.
Sind bei dir Freundschaften kaputtgegangen während Corona?
Ja, eine. Und bei einem anderen Freund steht es auf der Kippe, dem ist die Vereinzelung ganz schlecht bekommen. Wie ist es bei dir?
Mir sind tatsächlich ein paar Freunde abhandengekommen. Es gab Leute, die ich nach langer Zeit wiedergesehen habe, und die hatten, sagen wir mal, eine ganz andere Meinung zu Covid entwickelt als ich. Das ist erst mal nicht schlimm, aber wenn die mit dem Satz abgebunden wurde: "Mach dich mal schlau, was dahintersteckt", dann war mir klar, dass es vorbei ist. Und bei Leuten, die jetzt noch auf Langzeitstudien warten, denke ich: Da kannst du lange warten.
Komisch, oder? Ich denke genauso. Aber in anderen Bereichen halten wir doch auch abweichende Meinungen aus.
Nimm mal das Cover dieser Ausgabe.
Mich ich als Dirigentin?
Eben das. Was heißt denn "alle zusammen"? Früher war klar: Wir singen – nur so als Beispiel – "Hoch auf dem gelben Wagen" in C-Dur. Heute aber wissen wir gar nicht mehr: Welches Lied singen wir eigentlich? Von der Tonart will ich gar nicht erst anfangen. Ich finde das aber gar nicht so schlimm, solange man weiß, dass es gerade so ist und die Dinge im Wandel sind.
Ich finde es schlimm. Es gab mal einen Kompass dafür, was richtig und was falsch ist. Und es gab eine gemeinsame Faktenlage.
Moment, die gibt es immer noch. Es gibt nur einen ganzen Haufen Leute, die sagen: Ich glaube nicht an die Fakten.
Ist es nicht auch so, dass man heute seine vermeintlichen "Fakten" nach der eigenen Meinung im Netz zusammensucht? Jeder kann sich seine eigene Wahrheit basteln. Und viele leben danach.
Aber Wahrheit ist ja vielleicht gar nicht der wichtigste Punkt in diesem Fall. Der Begriff der Verantwortung ist plötzlich so wichtig geworden. Im Sinne von: Wer sich impfen lässt, übernimmt nicht nur Verantwortung für sich, sondern auch für andere, die dadurch geschützt sind. Bloß ist dieses Verantwortungsgefühl scheinbar noch nicht überall angekommen.
Und das ist genau der Punkt, an dem sich zeigt, wie wenig an Gemeinschaftsgeist in unserer Gesellschaft ist. Wir haben die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg, aber es gibt einen Weg raus – und dann stellen sich Leute hin und sagen: Nee, sorry, es gibt zwar wissenschaftlich keinerlei Beweise dafür, aber ich habe da so meine Bedenken. Tut mir leid, ich finde wirklich, dass das hier ein Moment ist, die eigene Befindlichkeit hintanzustellen und etwas für das große Ganze zu tun.
Ein kleiner Piks für den Menschen …
… ein großer für die Menschheit. So sieht’s doch aus! Meine These ist ja auch, dass das Verantwortungsbewusstsein wächst, wenn man in gefestigten Strukturen groß wird. Du hast ja deine Kindheit in einem Dorf in der Steiermark verbracht.
Und ich habe es geliebt. Ich bin da den ganzen Tag barfuß in kurzen Hosen über die Bauernhöfe gelaufen. Das hat mich geprägt, und ich habe meine Werte aus dieser kleinen Gemeinschaft gezogen.
Welche Werte sind das? Und wer hat die vorgegeben?
Mein Großvater, meine Großmutter, die Nachbarn … Welche, das lässt sich am Ende auf einen Satz vom hochgeschätzten Josef Hader runterbrechen: Lass nix fallen, dann brauchst nix aufheben. Oder übersetzt: Tu keinem weh, dann tut dir auch keiner weh.
Hihi, der Kant’sche Imperativ, Steiermark-Style.
Genau. Bei uns haben die Kuhglocken gebimmelt, ich habe bei den Nachbarsbauern gelernt, und mein Großvater hat mir gezeigt, wie man aus einem Haselstrauch eine Pfeife schnitzt. Da habe ich gewusst: Ich bin gerüstet für die Welt.
Meine Schwiegermutter sagt immer: Wer in der Natur zurechtkommt, hat im Leben keine Probleme. Und deshalb bist du ja auch als "Bergdoktor" so toll: Denn du bewegst dich in deinem natürlichen Habitat.
Da ist was dran. Ich spiele seit 15 Jahren eine Rolle, die mein altes Leben irgendwie spiegelt: die Berge, die Bauernhöfe, die starken Frauen …
Ich stelle mir überhaupt vor, dass "Der Bergdoktor" ein tolles Beispiel für eine gewachsene Gemeinschaft ist. Und ungewöhnlich für deinen Beruf, der ja eigentlich darauf ausgerichtet ist, immer wieder neu in Projekte hineinzuhüpfen.
Mein Wunsch am Theater war früher immer schon, zu einem festen Ensemble zu gehören. Springer zu sein hat mich nie gereizt. Und ich mochte Serien schon immer, ich habe ja auch ein paar Jahre lang "SOKO Kitzbühel" gemacht. Das war dann irgendwann vorbei, und dann kam das Angebot, Doktor Martin Gruber zu werden.
Und du hast natürlich sofort zugesagt.
Na, ein bisschen drüber nachgedacht habe ich schon. Nimm mal die "Schwarzwaldklinik": Die Rolle des Doktor Brinkmann wurde, wie ich mal hörte, zuerst Armin Mueller-Stahl angeboten. Der hat abgelehnt, so ist es dann Klausjürgen Wussow geworden – der vorher Burgschauspieler war. Du gibst deiner Karriere als Schauspieler mit so einer Rolle eine Richtung, darüber muss man sich sehr bewusst sein. Und ich dachte dann: Mache ich das halt mal für vier Jahre.
Wieso vier?
Weil die Serie zunächst auf vier Staffeln angelegt war. Jetzt sind es schon fast 15 Jahre, und ich liebe es noch immer.
Hast du als Hauptfigur eigentlich eine besondere Verantwortung für diese, sagen wir mal: Produktionsfamilie?
Ich bin der Klassensprecher, die jungen Leute am Set kommen gern zu mir, wenn sie Fragen haben, und das ist super für mich. Aber was wäre so ein Klassensprecher ohne Klasse? Dieses Ding am Leben zu halten, dafür zu sorgen, dass es gut wird, das geht nur, wenn alle zusammen daran arbeiten. Ich brauche jeden Einzelnen von den Beteiligten. Das schweißt zusammen.
Ich finde es so toll, Kollegen zu haben – auch deshalb, weil mir das oft fehlt.
Na ja. Du hast doch zum Beispiel eine eigene Zeitschrift, gewiss mit lauter Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen.
Aber ich habe keinen Schreibtisch in der Redaktion, das meiste erledigen wir remote über die Distanz. Das ist anders als bei dir, ihr seht euch über ein halbes Jahr lang jeden Tag. Mein Arbeitsmodell hat aber auch Vorteile.
Welche?
Ich bin nicht sehr diplomatisch. Manchmal rutschen mir Dinge raus, von denen ich denke: Gut, dass wir uns jetzt nicht morgen schon wieder sehen …
Ich hätte dazu einen Gedanken: Gemeinschaft, ob nun bei der Arbeit oder auch in anderen Zusammenhängen, entsteht dann, wenn man den anderen wirklich sieht, wenn man ihn wahrnimmt. Und ich spüre da gerade einen verhängnisvollen Trend.
Der da wäre?
Dass sehr viele ihr Bedürfnis, mit den eigenen Facetten und Befindlichkeiten gesehen zu werden, wie selbstverständlich einfordern – selbst aber nicht bereit sind, den anderen zu sehen. Es gibt da ein sehr schönes Gleichnis von dem argentinischen Gestalttherapeuten und Autor Jorge Bucay.
Das will ich hören!
Okay, pass auf, ganz knapp zusammengefasst: Die Wut und die Traurigkeit gehen zusammen spazieren. Sie kommen an einen See, es ist ein schöner Tag, also legen sie ihre Mäntel ab und gehen schwimmen. Danach verwechseln die beiden ihre Mäntel, und seit diesem Tag läuft die Wut im Mantel der Traurigkeit durch die Welt.
Und umgekehrt.
Ja. Mir gefällt das so gut, weil das den Zustand unserer Welt spiegelt. Die Wütenden sind eigentlich traurig, weil sie nicht gesehen werden, und die Traurigen sind viel wütender, als sie es zugeben würden.
Und warum sehen wir das nicht?
Weil wir nicht sagen: Ich bin traurig. Wir sagen auch nicht: Ich bin wütend. Will keiner hören. Ich glaube, wenn wir lernen, die Wut und die Trauer in uns und anderen zu akzeptieren, wird uns das viel näher zusammenbringen.
Apropos zusammenbringen: Wen möchtest du an den Feiertagen nicht sehen?
Alle, die nicht mit Familie gelabelt sind. Wie ist es bei dir? Ich rate mal: groß und wild und ganz schön voll, oder?
Da sitzen dann gut und gern … Moment … na, so etwa 25 Menschen am Tisch.
Das ist … viel. Klingt aber herrlich. Bei uns sind es nicht ganz so viele.
Was soll ich sagen: Es ist mein Schönstes.
Stephan Bartels, der Protokollant dieses Gesprächs, genoss am Vorabend dieses Treffens den späten Spaziergang durchs menschenleere München.