Barbara: Heikedine, Sie sind eine besonders stilvolle Frau …
Heikedine: Vielen Dank …
… und deshalb benutzen wir beide in diesem Gespräch die vielleicht stilvollste Anredeform im ganzen Land: das Hamburger Sie.
Richtig. Wir nennen uns beim Vornamen, bleiben aber beim Sie. Helmut Schmidt war ein Großmeister dieser Form.
Wo wir das jetzt geklärt haben: Es gibt eine Frage, deren Antwort mich bei kaum jemandem so interessiert wie bei Ihnen.
Und zwar?
Welches ist Ihr Lieblingsmärchen?
Hach. "Die kleine Seejungfrau". Das war mein erstes Märchen. Und gleichzeitig mein Paradestück, das meinen weiteren Weg geebnet hat.
Für alle, die bisher immer dachten, "Die kleine Seejungfrau" – oder Meerjungfrau, wie es auch heißt – sei von Hans Christian Andersen: stimmt auch. Aber Sie sind die Chefin des Plattenlabels Europa. Jene Plattenfirma, in der all die Märchenschallplatten erschienen sind, die ich in meinem Kinderzimmer gehört habe. Und die Kassetten!
Nur dass ich da nicht als Chefin angefangen habe. Ich hatte Ende der 1960er studiert, und da musste ich zusehen, dass ich ein bisschen Geld verdiene.
Bei einer Plattenfirma? Mit Märchen?
Das war nicht meine erste Idee. Ich hatte damals in Genf Jura studiert – und mit meinem damaligen Freund Schlagertexte geschrieben. Damit sind wir nach Hamburg zur Plattenfirma Miller International gefahren, wo Andreas Beurmann einer der Chefs war. Den hatte ich Jahre zuvor flüchtig beim Fasching kennengelernt. Mein Freund hat mich vor dessen Büro abgesetzt, und der Beurmann hat mich doch tatsächlich empfangen.
Und die Sache mit den Schlagern …
… hab ich dann sehr schnell bleiben lassen. Beurmann hat sich gleich an ein weißes Cembalo gesetzt und erst mal was Klassisches gespielt. Da war mir klar: Mit dem, was ich da im Koffer hab, kann ich dem nicht kommen.
Aber wie kam das denn dann mit den Märchen?
Tja. Irgendwie mochte er mich, und er hat gefragt: Was wollen Sie denn machen bei mir? Da fiel mir ein, dass das Europa-Label zum Konzern gehört, eine Plattenfirma für Kinder. Deshalb sagte ich: Märchen produzieren.
Und das fand er gut?
Das war das Schöne bei Beurmann: Bei dem durfte man erst mal machen. Also habe ich aus dem Andersen-Märchen ein hörspieltaugliches Skript gemacht und bin damit ins Studio gegangen.
Und dann?
Bin ich zum ersten Mal Hans Paetsch begegnet.
Hans Paetsch! Wie toll! Diese unglaubliche Stimme! Das war mein persönlicher Märchenonkel. Wie von mehreren Millionen anderen Kindern auch, nehme ich an.
Ganz bestimmt. Ich weiß noch, wie ich ihm gegenüberstand, als er die Geschichte eingelesen hat. Das war … Wahnsinn, echt. Wie Musik.
Warum hatten Sie "Die kleine Seejungfrau" gewählt?
Ach, ich hatte schon immer ein Faible für die düsteren, die traurigen Märchen. Das sind sie bei Andersen ja sehr oft. Aber was ist Ihr liebstes Märchen?
"Hänsel und Gretel". Und wissen Sie, warum?
Nee.
Weil ich das Märchen durch die Oper kennengelernt habe. Das ist ein besonderer Zugang über die Musik, ich kann heute kaum in das Stück gehen, ohne die ganze Zeit zu heulen, so schön ist das.
Wie? Sie gucken sich das heute noch an?
Barbara: Nicht nur das. Bei den Taufen meiner Kinder habe ich den "Abendsegen" aus der "Hänsel und Gretel"-Oper gesungen. Um ehrlich zu sein: Ich werde inzwischen für fremde Taufen gebucht. Aber mich umtreibt gerade ganz was anderes …
Was denn?
Ihr Werdegang. Dieser selbstbestimmte Weg in die Karriere, vor über 50 Jahren.
Stimmt wohl. Da wurden Frauen noch nicht so ganz ernst genommen.
Und wenn man studiert oder gearbeitet hat, dann vor allem, um die Wartezeit zu überbrücken, bis man den Richtigen traf. Kam der bei Ihnen nicht, der Richtige?
Ach. Das würde ich so nicht sagen. Ich war tatsächlich ständig verliebt. Meistens in die Freunde meiner Freundinnen, und dann habe ich versucht, denen die Jungs abzujagen.
Wie bitte? Heikedine, das ist ja unerhört!
Na ja, mit den meisten bin ich heute immer noch befreundet. Also, mit den Männern jetzt. Weniger mit den Frauen.
Aber das Märchenhafte ist ja: Sie haben am Ende Andreas Beurmann geheiratet.
Aber erst 1979, mehr als zehn Jahre, nachdem ich in seiner Firma aufgetaucht bin. Ausgerechnet in den war ich nämlich anfangs gar nicht verliebt. Das war mehr so eine Verehrung – es war schön, mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Wir waren befreundet, sind zusammen ausgegangen, ich habe ihm die Mädchen vorgestellt …
Haha! Das sind ja die besten Voraussetzungen für eine perfekte Ehe!
Scheint so. Wir haben es schließlich über 40 Jahre miteinander ausgehalten.
Aber Kinder haben Sie nicht bekommen.
Nein, das sollte wohl nicht sein. Aber für Europa habe ich in über 50 Jahren mehr als 3200 Hörspiele produziert, und all die Kinder, die wir damit beglückt haben, Hunderttausende – das sind dann irgendwie auch meine.
3200, eine irre Zahl! Und was für tolle Sachen dabei sind – allein "Die drei ???", totaler Kult seit mehreren Generationen!
Ich mochte auch "Hui Buh" sehr gern, meine erste Hörspielserie. Oder "Hanni & Nanni".
Oh ja, das habe ich rauf und runter gehört! Aber welche Rolle spielten für Sie persönlich die Märchenproduktionen in diesem riesigen Fundus?
Ich habe die sehr geliebt. Da steckt so viel Moral drin, das Böse wird bestraft und das Gute belohnt. Aber ich habe beim Schreiben der Hörspielskripte darauf geachtet, dass ich die Grausamkeiten in ihnen entschärfe.
Stimmt, die sind oft sehr brutal. Ausgestochene Augen, abgeschnittene Fersen … Deshalb gibt es ja heute auch Diskussionen darüber, ob Märchen schädlich sind und verboten gehören.
Ach, das hatten wir vor 40 Jahren auch schon. Und uns wurden noch ganz andere Sachen vorgeworfen. Zum Beispiel: Wir würden Kinder vom Lesen abhalten mit unseren Kassetten. Aber was gibt es denn Schöneres, als vorgelesen zu bekommen? Und dann noch von Hans Paetsch! Das ist doch fast so ein großes Glück, als wenn es die eigenen Eltern tun.
Wurde bei Ihnen zu Hause vorgelesen?
Ja. Meine Mutti hat dafür gesorgt, dass wir immer genug Stoff aus der Bücherei bei uns hatten, und dann hat sie vorgelesen. Aber wir haben auch viel fantasiert und uns eigene Geschichten ausgedacht. Das war überhaupt mein Schönstes, wenn Freundinnen bei mir übernachten durften – denen habe ich dann Storys erzählt, bei denen sie sich vor Angst die Bettdecke über den Kopf gezogen haben.
Oh, ist das toll – wenn man so was kann! Ich bin definitiv die schlechteste Geschichtenerzählerin der Welt. Bei mir geht es immer nur ums Essen und Einschlafen.
Ach was. Wie hört sich das dann an?
Na ja, da ist dieser kleine Junge, der so furchtbar müde ist, auf dem Weg ins Bett aber im Supermarkt eingeschlossen wird … Hm. Ich glaube, meine Fixierung auf diese Themen sollte mal psychologisch untersucht werden. Und meine Kinder fragen immer: Kann Oma noch mal kommen und uns eine Geschichte erzählen? Ich sage Ihnen, Heikedine: Nichts ist für mich so schlimm, wie mir etwas ganz frei ausdenken zu müssen. Ich habe einfach gar keine Fantasie! Ist bei Ihnen wahrscheinlich anders.
Ich bin mal in der Schule sitzen geblieben. Wegen Deutsch. Da habe ich eine Fünf bekommen – wegen meiner Aufsätze. Darunter stand oft: Die Autorin fantasiert.
Wirklich? Wegen so was musste man damals die Klasse wiederholen?
Mein Vater fand das auch ungerecht. Der hat sich dagegen gewehrt. Die Lehrerin kam dann zu uns nach Hause und riet meinen Eltern, mich von der Schule zu nehmen. Ich würde ja doch irgendwann heiraten, also wozu der ganze Ärger?
Das hat Ihr Vater offenbar anders gesehen.
Ganz anders. Der hat mich auch immer unterstützt, in allem, was ich vorhatte. Und er hat mir das Familienmotto mitgegeben: Geht nicht gibt’s nicht. Gibt es so was bei Ihnen?
Etwas, das meine Eltern mir mitgegeben haben?
Genau.
Nicht so etwas Explizites. Aber ich habe gerade neulich darüber nachgedacht, wie sehr es in unserer Gesellschaft gewünscht und gefordert wird, Mädchen zu stärken und zu fördern. Das ist vollkommen richtig, aber mir ist aufgefallen: Mir wurde zu Hause nie suggeriert, dass ich irgendetwas nicht schaffen könnte, weil ich ein Mädchen war. Das war schlichtweg kein Thema. Meine Mutter sagte aber oft: Verdiene dein eigenes Geld und mach dich nicht von einem Mann abhängig.
Hat Ihre Mutter das denn selbst getan?
Das ist es ja: nein. Meine Eltern sind bis heute das glücklichste Liebespaar, das ich kenne, da war Auseinandergehen nie ein Thema. Aber ich glaube, ihr war total bewusst, was in ihrer Generation ein flächendeckendes Problem war: Man blieb oft deshalb zusammen, weil die Alternative wirtschaftlich undenkbar war.
Das stimmt wohl. Wenn ich meine Mutter anschaue … Nicht, dass die sich hätte trennen wollen.
Aber?
Ich war immer sehr umtriebig und geschäftstüchtig. Noch während des Studiums …
… in Genf?
Nee, zuerst war ich in Hamburg an der Uni. Und habe gegenüber einen kleinen Laden eröffnet. Weil ich aber studieren musste, habe ich Mutti eingestellt, die hat das Geschäft geschmissen. Und damit ihr erstes eigenes Geld verdient. Das hat die ganze Dynamik in der Beziehung zu meinem Vater verändert. Jetzt war es nicht mehr sie, die zu Hause mit dem Essen auf ihn wartete – er hat sie von der Arbeit abgeholt, und sie hat ihn von ihrem Geld ins Restaurant eingeladen. Das ist doch toll.
Toll ist ein gutes Stichwort. Sie sind jetzt 77 Jahre alt. Sie flüchteten aus der Nähe von Jena mit Ihrer Mutter und Ihrem Bruder nach Lübeck, weil Ihr Vater dort in Kriegsgefangenschaft war. Dann das Studium, Ihr Aufstieg zur erfolgreichen Hörspielproduzentin und Firmenchefin – wenn man von außen auf Ihr Leben guckt: Das hat schon was Märchenhaftes, oder?
Inwiefern?
Weil in Märchen immer Widrigkeiten überwunden, Herausforderungen gemeistert werden müssen, bevor man glücklich bis ans Ende seiner Tage leben darf.
So gesehen … Aber ich glaube, das ist eher was anderes, und das haben Sie noch viel mehr als ich: Wir nehmen beide die Dinge mit einer gewissen Leichtigkeit. Und wir erlauben uns zu scheitern. Wenn irgendwas mal nicht so klappt, dann probieren wir einfach was anderes. Diese Haltung ist doch genau das, was die Leute an Ihnen lieben.
Sind Sie eigentlich jemals als Prinzessin verkleidet zum Fasching gegangen?
Na klar. Und Sie?
Aber hallo! Das Trauma meines Lebens ist, dass meine Mutter es für eine gute Idee hielt, dass ich mal als Teufel gehe. Ich habe den ganzen Nachmittag geweint. Ich wollte nur schön sein.
Und ich sexy. Kam für meine Mutter aber nicht infrage. Ich weiß noch, wie sie mir, da war ich 17, ein langes goldenes Kleid genäht hat. Am wichtigsten war für mich daran der lange Schlitz, durch den ich das Bein rausschieben konnte. Damit bin ich dann mit meinen beiden Brüdern auf den Nienstedtener Pferdemarkt gegangen, der beste Faschingsball in Hamburg. Und was soll ich sagen: An dem Abend habe ich einen Clown kennengelernt.
Wie lustig!
Richtig. Das war nämlich jener Andreas Beurmann, den ich 16 Jahre später geheiratet habe.
Ich sag’s ja: Ihr Leben ist ein Märchen.
Und deshalb bin ich mit Beurmann auf ein Märchenschloss in Schleswig-Holstein gezogen. Und da lebten wir dann glücklich, bis er 2016 gestorben ist. Aber mein Märchen geht noch weiter.
Heikedine Körting, geboren 1945 in Jena, ist in Lübeck aufgewachsen und hat in Genf und Hamburg Jura studiert. Weil sie aber viele Talente hat – zum Beispiel als Modeschöpferin und Schauspielerin –, schrieb sie 1969 ihr erstes Hörspielskript: "Die kleine Seejungfrau". Etwa 3200 weitere folgten, unter anderem für "Die drei ???", "Hui Buh" und "Hanni & Nanni" – im Auftrag des Labels Europa, für das sie seit 1973 die bedeutendste Produzentin ist. Körting, die kürzlich das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen hat, lebt auf Gut Hasselburg in Schleswig-Holstein.
Stephan Bartels hat gebannt zugehört – er ist ein glühender Verehrer von Hans Paetsch. Sein Bruder Tobi hingegen ein "Die drei ???"-Nerd