Franziska Giffey wurde 1978 in Frankfurt/Oder geboren und wollte Lehrerin werden, aber eine Kehlkopfschwäche vereitelte diesen Plan. Schon während ihres Studiums zur Diplom-Verwaltungswirtin arbeitete sie im Büro eines Londoner Bezirksbürgermeisters. Bekannt wurde sie, als sie selbst eine wurde, als Nachfolgerin von Heinz Buschkowsky in Berlin-Neukölln. Seit März 2018 ist sie Bundesministerin und die Hoffnung der SPD. Franziska Giffey ist verheiratet und hat einen Sohn.
Barbara: Frau Giffey, als ich eben ins Ministerium gekommen bin, fiel mein Blick auf das Logo mit den Zuständigkeiten dieser Behörde.
Franziska Giffey: Sie meinen: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend?
Barbara: Genau. Und ich dachte so bei mir: Dass wir Frauen in 2018 immer noch ein eigenes Ministerium brauchen ...
Giffey: Was wundert Sie daran?
Barbara: Weil man eigentlich denkt, wir müssten doch längst alle gleichberechtigt leben.
Giffey: Für viele stimmt das auch. Aber solange Frauen tatsächlich nicht in allen Bereichen der Gesellschaft gleichberechtigt stattfinden, ergibt es komplett Sinn, einen Platz speziell für Frauenpolitik zu haben.
Barbara: Und wie lange wird das noch so sein, was glauben Sie?
Giffey: Solange Frauen 21 Prozent weniger verdienen als Männer. Solange jedes Jahr 100.000 Frauen von häuslicher Gewalt betroffen sind. Solange an jedem dritten Tag in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Expartner ermordet wird. Jeden dritten Tag! Solange wir in den Vorständen der großen deutschen Unternehmen 94 Prozent Männer in den Chefetagen haben und nur sechs Prozent Frauen. Solange die 5,7 Millionen Menschen in sozialen Berufen – zu 80 Prozent sind das Frauen – so wenig verdienen wie heute. Und solange Pflege und Erziehung vor allem Frauensache sind, was berufliche Perspektiven für sie deutlich verschlechtert.
Barbara: Ganz subjektiv habe ich schon das Gefühl von erlangter Gleichberechtigung. Aber Sie dringen in Ihrem Job wahrscheinlich in Bereiche vor, in denen ganz viel im Argen liegt, oder?
Giffey: Ich hatte in den ersten sechs Monaten als Ministerin 300 Termine in ganz Deutschland. Da merkt man ganz deutlich, wie groß die Unterschiede noch sind.
Barbara: Zum Beispiel?
Giffey: Nehmen wir Baden-Württemberg. Klar können Sie da Ihr Kind in die Kita bringen. Aber dort heißt es häufig auch: Holen Sie es doch bitte um zwölf wieder ab – vor dem Mittagessen!
Barbara: Selbst wenn man bewusst Hausfrau sein will – die Zeit reicht ja nicht mal dafür, ordentlich aufzuräumen.
Giffey: Nee. Da kommt man gerade mal zum Einkaufen und dazu, das Mittagessen vorzubereiten. Und wenn das Kind dann eingeschult ist, gibt es keine Nachmittagsbetreuung. Wie willst du dann noch arbeiten? Das geht nicht, keine Chance!
Barbara: Für Sie ist das toll.
Giffey: Wieso?
Barbara: Wenn so viel noch nicht klappt, haben Sie die Chance, irrsinnig viel zu bewirken.
Giffey: Viel zu tun ist auf jeden Fall. Hier in Berlin werden zum Beispiel Nachmittagsbetreuung und Spätdienste angeboten, aber es gibt zu wenig Kitaplätze, weil insgesamt der Bedarf steigt und so viele neue Leute in die Stadt ziehen.
Barbara: Will denn überhaupt jeder sein Kind in die Kita geben?
Giffey: Die Sicht auf Familie ist extrem unterschiedlich. Das hängt auch davon ab, welche Erfahrungen Menschen selber gemacht haben.
Barbara: Und?
Giffey: Zum Beispiel ist es in Ostdeutschland gängiger, Kinder schon früh in die Kita zu geben. Im Westen war das lange weniger verbreitet. Mein Ziel ist es, dass wir eine so hohe Qualität der Betreuung hinbekommen, dass Eltern ihren Kindern gute Kitazeit nicht vorenthalten wollen. Wer sein Kind in die Betreuung bringt, darf nicht als Rabenmutter gelten. Diese Zeit sollten wir überwunden haben.
Barbara: Meine Mutter war auch immer zu Hause und für mich ein Vorbild – deshalb finde ich die Sache mit der frühen Fremdbetreuung auch schwierig.
Giffey: Wo liegen Ihre Schwierigkeiten?
Barbara: In mir selbst. Ich habe bei meinen Kindern lange gebraucht, um mir tatsächlich zu glauben: Es ist okay, wenn ich arbeite. Es ist okay, wenn ich eine Nacht nicht zu Hause bin.
Giffey: Das gute alte schlechte Gewissen. Das haben wir alle. Selbst wenn du zu 100 Prozent überzeugt bist, dass es richtig ist, zu arbeiten – wenn du dich umdrehst, weggehst, und dein Kind laut „Mama, bleib!“ ruft, wackelt jede Überzeugung.
Barbara: Meine Kinder haben noch nicht einmal gerufen! Und trotzdem habe ich mir nach jedem Auftritt einen Mörderstress gemacht, um nach Hause zu hetzen. Das würde kein Mann machen! Kein Mann geht morgens mit tränenerstickter Stimme zur Arbeit und verspricht, ganz bestimmt bald wiederzukommen. Keiner!
Giffey: Wichtig ist mir, dass es für Frauen eine freie und bewusste Entscheidung ist, wie sie das Familienleben gestalten. Dafür braucht es die richtigen Rahmenbedingungen. Einige entscheiden sich auch dafür, zu Hause zu bleiben.
Barbara: Und wie finden Sie das?
Giffey: Völlig okay. Wir müssen nur dahin kommen, dass das gleichermaßen für Frauen und Männer gilt. Frauen können super im Job sein und Männer super zu Hause. Und umgekehrt.
Barbara: Wie gut, dass man heute wählen kann, ob oder wie lange man arbeiten will – solange es mit dem Geld hinhaut.
Giffey: Genau das ist ein Problem. Die Rahmenbedingungen stimmen noch nicht. Wie viele Briefe bekomme ich von Frauen, die deshalb nicht arbeiten, weil es mit dem Geld eben nicht hinhaut, wenn sie 800 Euro im Monat für einen Kitaplatz zahlen müssen. Oder eben im Süden wohnen, wo häufig mittags Schluss ist. Da ist es oft schwierig mit den Wahlmöglichkeiten. Und was für ein Potenzial lassen wir damit liegen: tolle, gut ausgebildete Frauen!
Barbara: Oh ja, das stimmt. Solche habe ich auch im Freundeskreis. Einige wollen dann nach zehn Jahren wieder einsteigen, aber als sie zuletzt gearbeitet haben, war der Bildschirm noch schwarz und darauf blinkte ein grüner Cursor. Ach, es ist zwiespältig! Ich saß mal in einer Diskussionsrunde, in der eine Frau sagte: Emanzipation bedeutet für mich, dass ich zu allem anderen jetzt auch noch arbeiten muss.
Giffey: Höre ich öfter. Klar ist doch, dass es genau so nicht sein darf. Frauen sollen nicht neben dem Job noch „alles andere“ machen. Aufgaben müssen besser geteilt werden, darum geht es. Auch die Männer müssen da mit ran. Und es gibt noch eine andere Perspektive. In Deutschland haben wir Fachkräftemangel, da brauchen wir auch alle gut ausgebildeten Frauen.
Barbara: Andererseits habe ich das Gefühl, dass es tendenziell sogar eher nicht mehr erwünscht ist, dass Frauen in der Gesellschaft sichtbare Rollen übernehmen. Diese ganzen emanzipatorischen Errungenschaften und Wahlfreiheiten sehen sich zurzeit doch weltweit einem konservativen Backlash ausgesetzt, ob das nun in Amerika ist, in Ungarn, in Polen, in Ansätzen auch bei uns – spüren Sie das auf eine Art?
Giffey: Ja, und das macht mir Sorgen. Aber ich bin überzeugt, wir treffen auch künftig den Nerv der Leute. Wir sind eine moderne Gesellschaft. Aber bei dem ganzen populistischen Lärm wird es schwieriger, mit unseren Themen gehört zu werden. Dabei ist es das, was die Leute wirklich bewegt: Dass das ganz normale Leben gut funktioniert!
Barbara: Und ist es nicht so, dass dem eigentlich gar nichts im Wege steht?
Giffey: Wirtschaftlich geht es diesem Land so gut wie noch nie. Mir bestätigen auch die meisten im Gespräch, dass bei ihnen alles gut läuft. Viele haben Angst davor, dass das nicht so bleibt.
Barbara: Aber wenn alles so gut ist – worin liegt dann Ihre Aufgabe?
Giffey: Zum einen müssen wir den Menschen die Angst nehmen, es könnte morgen alles schlechter werden. Es geht vielen um Sicherheit in der Zukunft. Und zwar in einem sehr breiten Verständnis – Sicherheit vor Kriminalität, aber auch soziale Sicherheit, einen sicheren Job, eine sichere Rente. Zum anderen geht es auch um die, denen es trotz guter Gesamtentwicklung nicht so gut geht, bei denen das Geld am Ende des Monats nicht reicht, selbst wenn sie drei Jobs haben.
Barbara: Und das heißt?
Giffey: 80 Prozent aller Kinder wachsen bei uns materiell einigermaßen sorgenfrei auf. Das ist viel – hilft aber nicht den 20 Prozent, die arm groß werden. Die Gesellschaft als Ganzes hängt davon ab, dass wir diese 20 Prozent mitnehmen.
Barbara: Mich interessiert total, was Politiker antreibt. Haben Sie tatsächlich das Gefühl, hier richtig was bewegen zu können? Etwa was die armen 20 Prozent angeht?
Giffey: Absolut. Nehmen wir mal unser Gute-Kita-Gesetz. In den nächsten Jahren, bis 2022, gehen dadurch für frühkindliche Förderung 5,5 Milliarden Euro in die Länder. So viel hat der Bund noch nie dafür gegeben. Wenn wir Qualität ausbauen und Eltern bei den Gebühren entlasten, verhelfen wir vielen Kindern zu einem besseren Start ins Leben. Und wir als Gesellschaft werden etwas davon haben.
Barbara: Und wie findet der Seehofer das, wenn so ein Gesetz im Kabinett vorgeschlagen wird?
Giffey: Sagen wir mal so: Ohne die SPD hätte es das Gute-Kita-Gesetz nicht gegeben. Es war ein langer, harter Weg – und das muss auch erst noch durch den Bundestag und den Bundesrat ...
Barbara: So. Und da sehe ich schon das Hamsterrad vor mir: Man arbeitet sich eine Legislaturperiode lang mühsam an Kompromissen ab, dann kommt eine neue Regierung und macht eh alles wieder anders.
Giffey: Mit Gesetzen ist das zum Glück nicht so einfach. Aber weil die dann auch für 82 Millionen Menschen gelten sollen, müssen da schon ein paar Leute mehr draufgucken. Darum dauert das manchmal auch lange. Das ist mühsam, das verstehen viele auch nicht, und umso mehr muss man es erklären.
Barbara: Apropos erklären: Früher kannte ich so ziemlich jeden Minister im Kabinett. Heute nicht mehr. Woran liegt das bloß?
Giffey: Vielleicht an der Art, wie wir heute Nachrichten aufnehmen. Die hat sich verändert.
Barbara: Verstehe. Früher haben wir alle „Tagesschau“ geguckt und eine Tageszeitung gelesen und hatten denselben Nachrichtenstand ...
Giffey: ... und heute nimmt jeder Nachrichten viel individueller über das Internet wahr. Wer seine Informationen ausschließlich über Facebook bezieht, hat ja ein anderes Bild von der Welt. Darin tauchen Bundesminister nicht automatisch auf.
Barbara: Oder Ministerinnen. Ist es für Frauen immer noch so schwierig, sich in der Politik gegen die Männer zu behaupten?
Giffey: Die SPD hat drei Minister und drei Ministerinnen, halbe-halbe sollte inzwischen selbstverständlich sein. Leider ist das viel zu oft nicht so. Auch in vielen Ministerien sind Chefposten sehr häufig von Männern besetzt, seltener von Frauen.
Barbara: Und da frage ich jetzt mal etwas provokant: Liegt das vielleicht auch daran, dass Frauen sich in der zweiten Reihe doch ganz wohlfühlen? Weil sie noch ein Leben haben wollen außerhalb von Sitzungssälen und Vorstandsetagen – mit Freundeskreis, Familie und Zeit für sich?
Giffey: Spielt eine Rolle, definitiv.
Barbara: Oder blockieren Männer die guten Frauen immer noch?
Giffey: Kennen Sie die Thomas-und-Michael-Studie? Sie hat herausgearbeitet, dass es mehr Männer mit den Namen Thomas und Michael in den Vorständen großer deutscher Unternehmen gibt als Frauen – egal mit welchem Namen. Thomas fördert Thomas, Michael fördert Michael. Menschen sind sich nahe, wenn sie sich ähnlich sind. Wenn das über Karrieren entscheidet, ist das ein Problem! Für mich persönlich kann ich sagen, dass mir niemand Steine in den Weg gelegt hat. Ich wurde, im Gegenteil, sehr gefördert. Auch von Männern. Aber man muss dann auch springen.
Barbara: Nicht so leicht, wenn man auch eine Familie hat.
Giffey: Wir sollten genau diese Frage an Männer und Frauen gleichermaßen richten. Warum sollen sich immer Frauen entscheiden müssen zwischen Erfolg und Familie? Bei Männern scheint immer irgendwie auch beides zu gehen.
Barbara: Weil die sich den Druck nicht machen. Und nicht zu schlechtem Gewissen neigen. Überhaupt: Männer sind lauter und kommen damit besser durchs Leben.
Giffey: Da muss man differenzieren. Es gibt schon viele, die verstanden haben, dass man mit einem kooperativen und weicheren Führungsstil oft weiterkommt. Ich habe ja auch keine besonders laute Stimme.
Barbara: Trotzdem leiten Sie ein Ministerium. Was würden Sie sagen, 100 Jahre, nachdem das Frauenwahlrecht eingeführt wurde: Sind diese 100 Jahre eine lange oder eine kurze Zeit?
Giffey: Beides, würde ich sagen. Vor 100 Jahren war die Selbstbestimmung der Frau ein gesellschaftliches Schreckgespenst – dafür sind wir weit gekommen. Wir haben diese 100 Jahre gut genutzt. Aber wir haben auch noch einiges zu tun.