Als Vierjährige hörten Sie, wie Ihre Mutter über Sie sagte: "Manuela war eine herbe Enttäuschung für mich. Ich hatte mir so sehr einen Jungen gewünscht." Was machte das mit Ihnen?
Diesen Satz habe ich als Vierjährige mit Sicherheit nicht verstanden, aber meine Mutter hat das kontinuierlich wiederholt. Und weil sie selbst als Mädchen benachteiligt wurde, gab sie das unreflektiert an mich weiter. Mit dem Spruch "Dein Bruder kann das besser als du" brachte sie mich permanent in eine Konkurrenzsituation. Selbst als ich 1999 die Bundesverdienstmedaille für mein ehrenamtliches Engagement bekam, meinte sie noch: "Also, ich hab mir nicht vorstellen können, dass aus dir mal mehr wird als aus deinem Bruder." Da dachte ich, Mama, du willst es nicht verstehen.
Brachte das in Ihnen eine Ich-zeig’s-dir-Seite hervor?
Ja. Meine Mutter hat mir unfreiwillig auch einen guten Weg gezeigt. Ich war regelrecht aufgefordert, ihr jeden Tag zu beweisen, du hast nicht recht. Mädchen können alles. Und Mädchen sind genauso klug wie Jungs. Das hat mich mutig gemacht. Meine Mutter fand, ich sei aufrührerisch, trotzig und rebellisch.
Was hat Sie als Kind bestärkt?
Zum Glück haben meine Großeltern immer an mich geglaubt und mich geliebt, wie ich war. Außerdem hat mir Pippi Langstrumpf Mut gemacht. Mein erstes Buch, und dann begegnet mir darin gleich ein Mädchen, das keine Eltern hat und dem keiner etwas vorschreibt. Pippi steckt voller Kraft und Zuversicht und vermittelte mir, dass man sein Leben selber gestalten kann.
Ihre geschiedene Mutter entschied, dass Sie mit 14 die Schule verlassen, um eine Lehre im Einzelhandel zu beginnen und den Lebensunterhalt mit zu verdienen. Verlangte sie das auch von Ihrem Bruder?
Als sich bei meinem Bruder die Frage stellte, ging es uns finanziell etwas besser. Er durfte auf die Realschule. Später hat er auf dem zweiten Bildungsweg studiert.
"Wenn ich meinen eigenen Weg suchen und ihn konsequent gehen wollte, war es erforderlich, das Nagelbett meiner Kindheit zu verlassen" – so Ihre drastischen Worte …
Ich zog mit 17 aus, weil es zu Hause so stressig war, ich suchte einen Weg in die Unabhängigkeit und habe mit 19 meinen ersten Mann geheiratet. Ich bin dankbar, dass ich damals die Energie fand, Dinge auszuhalten und mich auf den eigenen Weg zu machen. Ich musste lernen, eigenverantwortlich zu agieren.
Haben Sie sich mit Ihrer Mutter je aussprechen können?
Mit Anfang 40 lud ich sie zu einem Wochenende ein. Mit der Bitte: Ich möchte verstehen, warum du das mit mir gemacht hast. Wie war deine Kindheit? Wie hast du den Krieg erlebt und wie die Ungerechtigkeiten zwischen Männern und Frauen? Was ist das für ein Paket, das dein Leben prägt? Meine Mutter hat sich darauf eingelassen, und ich muss sagen, das war eines unserer schönsten Wochenenden. Das emotionalste sowieso. Ich hab viel verstanden, wir sind uns so sehr nahegekommen. Mit meinem Vater hatte ich später auch so eine Session. Das ist ein großes Geschenk, wenn sich die Eltern darauf einlassen.
Was hat Sie im Leben am meisten herausgefordert?
Was mir am meisten abverlangt hat, ist das Aufstehen nach einer Niederlage. Vor allem nach diesem maximalen Scheitern …
Sie meinen, als das Unternehmen, das Sie mit Mitte 20 mit zwei Kompagnons gründeten, pleite ging, weil einer der Mitinhaber Geld veruntreute? Und Sie plötzlich getrennt von Ihrem Mann, mit Schulden, ohne Job und ohne Wohnung dastanden …
Sicherlich mein Tiefpunkt. Aber auch eine Weichenstellung für einen anderen, sehr guten Weg. Scheitern ist eigentlich nur ein Umweg.
Damals notierten Sie drei Ziele: Sie wollten in einem großen Konzern mit Bildungsmöglichkeiten arbeiten, finanziell unabhängig sein und eine Eigentumswohnung für die Altersvorsorge anschaffen. Heute sind Sie stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende bei der Beiersdorf AG. Aufgrund Ihrer langen Dozentinnentätigkeit wurden Sie Professorin. Ohne Abitur. Ohne Studium. Früher hatten Sie Angst, dazu zu stehen …
Wenn man den Titel Professorin trägt, ist es naheliegend, dass jemand fragt, was haben Sie denn studiert? Insofern kam ich immer wieder in Erklärungsnot. Dann zu antworten, ich habe kein Studium, ist schon ein bisschen – na ja – ungewöhnlich. Als ich das erste Mal öffentlich dazu stand, war das für mich wie eine Art Coming-out. Und es wurde äußerst positiv aufgenommen.
Ihr Buch heißt "Wir brauchen Frauen, die sich trauen". Kam Ihnen je der Gedanke, dass Sie darin zu offen von sich erzählen?
Ich hatte Mordsrespekt davor, in die Öffentlichkeit zu treten und mich mit so viel Offenheit auch angreifbar zu machen. Ich fürchtete, dass irgendetwas Negatives zurückkommen könnte, das meine Selbstzweifel bestätigt. Aber eine Bekannte sagte: "Genau damit hast du ja schon wieder Mut bewiesen." Tatsächlich ist das Buch für mich zu diesem Zeitpunkt meines Lebens ein großes Geschenk. Ich hätte es mit 40 oder 50 Jahren noch nicht schreiben können. Dazu bedurfte es einer gewissen Reife und des nötigen Abstandes.
Welche Hürden müssen die jungen Frauen heute überwinden, die Sie als Mentorin coachen?
Diese Frauen starten nach ihrem Abitur und Studium voller Energie. Aber bald kommen sie in der Realität an und treffen auf die klassischen Stereotype. Da werden Männer immer noch bevorzugt oder schneller befördert. Bei Frauen mit Ende 20 heißt es dann – na, die wird ja demnächst schwanger. So stoßen sie irgendwann an die gläserne Decke. Da kann ich meinen Mentees immer nur raten: Wenn ihr befördert werden wollt, dann so schnell und so weit wie möglich nach oben. Sonst bleibt ihr in einer einfachen oder mittleren Position hängen, wenn ihr nach der Geburt zurückkommt und in Teilzeit arbeiten wollt.
Dann ist Karriere kaum möglich.
Es ist ein Dilemma, dass das Thema Familie immer noch größtenteils auf den Schultern der Frauen lastet. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann sollten Teilzeit und Elternzeit männlicher werden. Denn dann müssten sich die Unternehmen anders ausrichten. Das ist eine große Chance für Männer, sich aus der klassischen Alleinverdienerrolle zu befreien und neue, zusätzliche Aspekte in ihr Leben zu bringen.
Mit welchen Problemen kommen die Mentees noch zu Ihnen?
Viele von ihnen leiden an einer Art Überforderung, weil sie denken, dass sie die Wünsche und Träume ihrer Eltern erfüllen müssen. Die Reflexion darüber, was beide Elternteile mitgegeben haben, was zur Persönlichkeit passt und Kraft gibt, was aber auch blockiert, macht freier, den eigenen Weg zu finden. Dann empfehle ich, mit den Eltern zu sprechen: Wie seht ihr mich eigentlich? Was ist, wenn ich eure Erwartungen nicht erfülle? Danach besteht die Chance, dass sich in der Beziehung etwas verändert.
Sie raten Frauen, sich sichtbar zu machen, sich als Marke zu etablieren.
Eine Marke zeichnet sich durch ihren Wiedererkennungswert aus. Das Gleiche gilt für eine Person im Berufsleben. Überlegen Sie: Wofür stehe ich? Wofür möchte ich stehen? Was sind meine Fähigkeiten, mit denen ich punkten kann? Kompetenz, Glaubwürdigkeit und Sympathie – das macht eine Marke aus.
Können Sie uns das vielleicht an Ihrem Beispiel erklären?
Bei mir ist das sicherlich mein ausgeprägtes soziales Verhalten, denn ich habe mich immer ehrenamtlich auch im Unternehmen eingebracht. So konnte ich beim Vorstand eine Kulturveranstaltung für die Arbeitnehmer durchboxen, die jetzt seit über 27 Jahren viermal jährlich stattfindet. Jedes Mal kommen 400 Kolleginnen und Kollegen, sie erleben mich als Gastgeberin und Initiatorin. Das schafft Sichtbarkeit. Auch als ich ehrenamtlich den Vorsitz in der Sportgemeinschaft bei Beiersdorf übernahm – mit heute 2400 Mitgliedern –, erhöhte das meine Bekanntheit.
Die Marke Rousseau steht für …
Rousseau steht für: Die setzt sich für die Mitarbeiter ein. Die engagiert sich sozial. Die ist ansprechbar. Die ist eine von uns. Das ist wohl auch die Erklärung dafür, warum ich fünf Mal als Aufsichtsratsmitglied wiedergewählt wurde.
MANUELA ROUSSEAUS Buch "Wir brauchen Frauen, die sich trauen" ist im Ariston-Verlag erschienen.