Es wäre wohl auch zu einfach. Wieso kann ich mir zur Fastenzeit nicht einfach Alkohol, Zigaretten, Kaffee, Social Media oder Süßigkeiten entziehen wie andere Menschen auch? Nein, stattdessen versuche ich mich abzuregen. Genauer gesagt: mir abzugewöhnen, mich aufzuregen. "Jammerfasten" heißt der Onlinekurs des Achtsamkeitstrainers Peter Beer, den mir eine Freundin empfohlen hat. Die Basisversion ist gratis. Außer Entspannung gäbe es so coole Sachen zu gewinnen wie Weltfrieden – ach nein, den leider doch nicht, aber Seelenfrieden, Lebensfreude, Gesundheit … Ich bin dabei!
Wie funktioniert "Jammerfasten"?
Im Laufe der nächsten elf Tage bekomme ich per Mail eine Sprachnachricht am Morgen und abends ein Video, in denen Beer erklärt, wie er sich durch Achtsamkeit aus einem Burn-out herausmeditiert hat – und wie ich das auch schaffe. Aber schon fange ich wieder an, Schwierigkeiten zu machen: Leider rrrrollt der Mann das Rrrr beim Sprechen derart, dass es mich beim Zuhören ganz verrrrückt macht! Aber ich will ja nicht jammern. Und nach elf Tagen habe ich tatsächlich neue Erkenntnisse. Erstens, dass es sich bei dem rollenden Rrrrr, etwa in den Wörtern Prrroblem oder frrrreudvoll, die häufig vorkommen, nicht um einen Sprachfehler, sondern Oberpfälzer Dialekt handelt. Check: Da werde ich nie hinziehen. Zweitens hat "Jammerfasten" tatsächlich meine Aufmerksamkeit geschärft, wie unbewusst mir kritische und selbstkritische Gedanken durch den Kopf laufen. Ich meckere jetzt achtsamer. Und praktiziere Genussmeckern, etwa weiterhin in dieser Kolumne.
Aber mich nicht aufzuregen, das regt mich einfach viel zu sehr auf! Das wäre, als ob man im Atomkraftwerk das rote Alarmlämpchen nur geistig abschaltet, statt sich um die Ursachen zu kümmern. Man soll sich nicht mehr über den ganzen Wahnsinn aufregen, sondern wahnsinnig entspannt bleiben? Alles kein Grund, sich aufzuregen? Das sagen fast immer nur die Verursacher der Aufregung. Überlasst doch bitte mir, ob ich den Grund angemessen finde! Über wen und was ich mich ärgere, zeigt mir, wo meine Grenzen und was meine Werte sind. Hey, ohne mutige Beklageweiber gäbe es bis heute kein Frauenwahlrecht!
Autofahren treibt den Blutdruck hoch
Und eine Gewohnheit werde ich sowieso nie ändern: Während ich Auto fahre, kommentiere ich die ärgerlichen bis gefährlichen Fahrweisen anderer. "Fahr zu, eyyy, hast du keinen Blinker oder was? Wieso schleichst du mit 100 auf der linken Spur?" Mein Freund auf dem Beifahrersitz ist gestresst davon – wie sehr, war mir allerdings nicht klar. "Kannst du bitte aufhören, dich beim Fahren so aufzuregen?", unterbrach er meine Mecker-Trance. "Könnte ich", sagte ich. Aber wollte ich? Und Achtung, jetzt kommt’s: Achtsamkeit und Selbstreflexion! "Aber … mein Vater hat das sein Leben lang auch gemacht. Wenn ich beim Fahren meckere, fühle ich mich ihm irgendwie … so nahe."
Eine Weile fuhren wir still weiter. Dann sagte mein Freund: "Meckere ruhig weiter. Ich will nicht, dass du das aufgibst." Da hatte selbst ich keine weiteren Klagen.