Seit einigen Wochen habe ich die Küchen-Digitalwaage so häufig im Einsatz, dass man denken könnte, ich sei unter die Profibäcker oder Drogendealer gegangen. Ich nehme sie sogar zum Einkauf mit! Dort lese ich nicht nur alle Angaben auf vertrauten Produkten, die ich sonst blind gegriffen und in den Korb geworfen hätte, sondern wiege sie auch nach. Das kostet Zeit, scheint mir aber nur recht und billig. Dachte ich zuerst noch, meine Hände wären über den Sommer vielleicht größer geworden, lautet mein Fazit nun: Es ist wirklich nahezu alles kleiner geworden – bis auf den Preis, der ist gestiegen, unangekündigt natürlich. Während auf Packungen ja gern schreiend verkündet wird "Neu! Jetzt 15 Prozent mehr!", habe ich noch nirgends "Sorry! Jetzt 18 Prozent weniger!" gesehen – wie es häufig der Fall ist. Und glauben die, keiner merkt, dass vor Kurzem noch mehr als vier Zwiebeln im Netz waren?
Vor allem diese händereibende Heimlichkeit macht mich wütend. Nahezu egal, um welches Produkt es sich handelt: Die Preissteigerung wird pauschal mit "Krieg, Inflation, verteuerte Rohstoffe, Lieferketten, diesdas" erklärt – sofern es überhaupt kommuniziert wird. Versteckte Preiserhöhungen um bis zu 75 Prozent sind laut Verbraucherzentralen keine Seltenheit. Hier ist auch der Nachahmereffekt bekannt, dass sich Hersteller bei der Füllmenge an Mitbewerbern "neu orientieren" und die eigenen Produkte dem Markt entsprechend "anpassen". Ich versuche gar nicht erst, die schlechte Nachricht schonend zu verpacken: Ja, das dürfen die sogar, es gibt überraschenderweise keine rechtlichen Vorgaben für bestimmte Füllmengen oder Preisaufschläge auf saisonale Produkte wie Schokonikoläuse etwa. Wollt ihr mehr? Bitte sehr: In einer 500-Gramm-Packung müssen übrigens noch längst nicht 500 Gramm sein! "Durch Unterfüllung werden Verbraucher jährlich um Millionen Euro übervorteilt", schreibt die Verbraucherzentrale. Unterfüllung ist jetzt schon mein Wort des Jahres 2022.
Weniger ist halt nicht immer mehr
Was mittlerweile auch chronisch unterfüllt ist, ist mein Vertrauensreservoir als Verbraucherin. Damit stehe ich nicht allein da: Laut einer aktuellen Statista-Umfrage nennen Deutsche die Inflation und gestiegene Lebenskosten als die größten Probleme. Kein Wunder, dass ich andauernd checke, ob wieder jemand versucht, mich über den Kassentisch zu ziehen. War mir auch egal, dass der Angestellte im Supermarkt seltsam guckte, als ich meine Digitalwaage herausholte, um nachzuwiegen, ob die Bioeier Größe L tatsächlich mit 63 bis 72 Gramm ins Gewicht fielen und nicht nur eine umetikettierte Klasse M waren (53 bis 62 Gramm). Ich misstraue mittlerweile allem: Beim Tanken habe ich das Gefühl, der angezeigte Liter besteht längst nicht mehr aus 1000 Millilitern, sondern nur noch aus 800. In der Wohnung kann ich mich schwer für 15 Grad als die neuen 22 Grad Mindesttemperatur erwärmen. Nein, dass weniger mehr sein soll, glaube ich mittlerweile weniger denn je.
Karina Lübke schreibt und konsumiert meistens in Hamburg. Allerdings nicht mehr um jeden Preis