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Kuckuckskind Wie geht man damit um?

Kuckuckskind: Mann hält Baby im Arm
© Halfpoint / Shutterstock
Als junge Erwachsene erfährt Regina, dass sie ein Kuckuckskind ist. Das erklärt einiges, aber eben nicht alles.
von Gitta Schröder

Warum sehe ich so anders aus?

Als Kind habe ich mich oft mit meinen beiden über zehn Jahre älteren Brüdern und meiner acht Jahre älteren Schwester verglichen: Warum hatten alle die gleiche große Nase wie mein Vater und das dicke, krause Haar meiner mexikanischen Mutter? Und ich: zierliche Nase, glattes Haar, hohe Wangenknochen. Später wurde der Unterschied noch deutlicher, als ich den Rest der Familie mit meinen 1,75 überragte. Ich gehörte also rein optisch schon nicht dazu. Aber da war noch etwas anderes: ein vages Gefühl, falsch in der eigenen Familie zu sein. Vielleicht hatte ich deshalb nie Heimweh. Es trieb mich immer weg von zu Hause, und so packte ich mit 16 meine Sachen und zog aus. Drei Jahre später traf ich den Entschluss, mit meinem Freund nach Australien auszuwandern. An den Abschied von meiner Mutter erinnere ich mich genau. Als ich bereits an der Haustür stand, hielt sie mich zurück und sagte: "Dein Vater ist nicht dein Vater." Vielleicht, um mich zum Dableiben zu bewegen. Ich dachte nur, das erklärt einiges. Und ging.

Warum hat meine Mutter nicht auf ihr Herz gehört?

Zuerst hat mich diese Sache mit meinem Vater überhaupt nicht interessiert. Ich hatte schließlich gerade ganz andere Pläne. Denn nachdem ich die Schule vorm Realschulabschluss geschmissen und drei Ausbildungen abgebrochen hatte, wollte ich nun als Model versuchen, die Welt zu entdecken. Es waren aufregende Jahre in Australien und Japan. Wegen einer fehlenden Aufenthaltsgenehmigung kehrte ich mit Mitte 20 zurück nach Hamburg, wo mich auch meine Familiengeschichte einholte. Ich löcherte meine Mutter mit Fragen nach meinem leiblichen Vater. Wie er war, und wie sie es geschafft hatte, drei Jahre lang eine geheime Affäre mit ihm zu haben. Ihre beste Freundin diente als Alibi. Sie hütete meine Geschwister, während meine Mutter den Jura-Studenten traf, den sie beim Jobben kennengelernt hatte. Siegfried hieß er, kam aus Lüneburg. War acht Jahre jünger als sie und ihre große Liebe. Doch als sie dann mit mir schwanger war, bekam meine Mutter Panik, dass ihre Ehe zu Bruch gehen könnte und ihre Schwiegermutter sie zur Abtreibung schicken würde. Deswegen verschwieg sie die Schwangerschaft so lange es ging. Laut meiner Mutter war Siegfried aber wohl entschieden, mit ihr und uns vier Kindern ein neues Leben zu beginnen.

Was wusste mein sozialer Vater?

Eigentlich hatte ich ein gutes Verhältnis zu ihm. Er zeigte mir als Kind den Mond und die Sternbilder und erklärte mir die Natur. Er konnte unglaublich schöne Gutenachtgeschichten erzählen. Doch irgendwann begannen die Sticheleien seiner Mutter, meiner ziemlich bösen Oma. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich etwa vier war und auf ihren Schoß wollte, um wie meine Schwester ihr "Prinzesschen" zu sein. Doch meine Großmutter sagte: "Nein, du bist unser kleiner Bastard." Zwar verstand ich damals nicht die Bedeutung des Begriffes, aber ich spürte ihre Ablehnung, dieses Gefühl, falsch zu sein. Sicher hat auch mein sozialer Vater irgendwann geahnt, dass ich ein Kuckuckskind bin. Vielleicht war es ihm egal, weil er selbst ständig flirtete und Affären hatte. Seine Liaison zu einer blutjungen Auszubildenden war dann der Grund, dass meine Eltern sich scheiden ließen. Ich war damals elf und wurde durch seine "Ziehtochter" – so stellte er tatsächlich seine Geliebte vor – ersetzt. Fünf Jahre später heirateten meine Eltern aus wirtschaftlichen Gründen erneut und zogen auch wieder zusammen. Diese ganzen Lügen, ich fand das unerträglich und zog aus.

Wer war mein leiblicher Vater?

Wie gesagt, er hieß Siegfried. Ich habe seine Nase, seine Lippen, seine Haare, seine Wangenknochen. Und seinen Blick. Das weiß ich, weil ich ein einziges Foto von ihm besitze. Siegfried wollte Staatsanwalt werden. Er muss ein sehr pflichtbewusster junger Mann gewesen sein. Denn er war dazu bereit, meine Mutter mit allen vier Kindern zu versorgen. Doch so weit sollte es nie kommen. Siegfried starb, als ich ein Baby war, nach einer Augen-OP an einer Hirnblutung. Mit nur 28 Jahren. Meine Mutter hat ihn noch im Krankenhaus besucht. Kurz vor seinem Tod hat Siegfried, hat mein leiblicher Vater mich gesehen und gehalten. Später schleppte sie mich oft auf den Ohlsdorfer Friedhof, wo wir immer dasselbe schmucklose Grab ansteuerten. Ich hab das alles nicht verstanden. Mir war dort einfach nur entsetzlich langweilig.

Wäre mein Leben anders verlaufen?

Mit meinem Mann bin ich seit über 20 Jahren verheiratet und glücklich. Er ist zwölfeinhalb Jahre jünger als ich – den Hang habe ich wohl von meiner Mutter geerbt. Obwohl heute alles gut ist, lässt meine Herkunft mich nicht los. Ich habe meiner Mutter oft vorgeworfen, dass sie mir Siegfrieds Familie vorenthalten hat. Ich hätte gerne meine Großeltern oder Siegfrieds Bruder Georg kennengelernt, um zu sehen, ob ich ihnen charakterlich ähnele. Vielleicht wäre mein Leben komplett anders verlaufen, wenn ich in Lüneburg groß geworden wäre – mit meiner Mutter, Siegfried und Großeltern, die mich lieben. Aber meine Mutter sagte immer zu mir: "Glaubst du etwa, die wollten dich kennenlernen?" Das hat mich tief getroffen. Wollten Siegfrieds Eltern, die wohl von mir wussten, wirklich keinen Kontakt?

Wo liegen meine Wurzeln?

Die Mutter meiner Mutter stammte aus Veracruz. Sie kam mit einer Familie, für die sie arbeitete, nach Hamburg. Dort eröffnete sie später mit ihrem Mann ein Heißmangelgeschäft. Den Rest der Familie in Veracruz lernte ich nie kennen. Ebenso wenig wie den schlesischen Zweig von Siegfrieds Familie, den ich nicht ausfindig machen konnte, denn sein Nachname "Zielasek" kann in zig verschiedenen Varianten geschrieben werden. Meine Forschungen verliefen im Sande. Mein Stammbaum hat nur den einen kümmerlichen Zweig.

Warum gingen meine Geschwister auf Distanz?

Als ich meinen Geschwistern nach meiner Rückkehr aus Japan von der Affäre meiner Mutter erzählte, wollten sie erst nicht wahrhaben, dass unsere Mutter ihren Vater betrogen hatte. Dann richteten sie ihren Groll auf mich. Das war sehr schmerzhaft. Leider ist unser Kontakt heute nur noch sehr sporadisch.

Ist das der Grund, warum ich oft denke, nicht genug zu sein?

Nirgends wirklich dazuzugehören, zu kurz zu kommen und nicht gut genug zu sein – ich denke, diese Gefühle teile ich mit vielen Kuckuckskindern. Unser gesamtes Leben fußt auf einer Lüge. Als meine Mutter vor zwei Jahren mit über 90 starb, sagte ich ihr am Sterbebett: "Das war richtig, was du getan hast, Mama." Aber mein insgeheimer Vorwurf bleibt, dass sie nicht ganz offen mit mir war. Ehrlichkeit ist für mich das wichtigste Prinzip.

Dieser Artikel erschien ursprünglich im Barbara Heft Nr. 06/2021.

Barbara

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