War konzentriert, fokussiert, voll bei der Sache. Doch plötzlich habe ich nur noch die Aufmerksamkeitsspanne einer Fruchtfliege. Bin nämlich abgelenkt: Ein Kaltwetter-Kollege zieht wie eine Unwetterfront auf mich zu. "Störe ich gerade?", fragt er. Ich antworte: "Nein, immer!"
Das wollte ich nicht – ehrlich sein, meine ich. In Momenten wie diesen sind Lügen normalerweise bereits dreimal um die Erde gerannt, bevor die Wahrheit überhaupt ihre Schuhe gefunden hat. Und die Wahrheit ist: Bin ein Trickser, Täuscher und Verschleierer, aber kein großer Lügner. Vielmehr verbiege ich die Wahrheit wie ein haariger Riese Eisenstangen im Zirkus. Ohne moralischen Muskelkater zu bekommen. Oder Applaus.
Ein gesellschaftliches Schmiermittel ist die Lüge, ein Konfliktvermeider, Erträglichmacher. Lügen sind außerdem Zeichen von Intelligenz und Kreativität. Behaupten Evolutionsbiologen. Psychologen meinen: Ohne Lügen und Diplomatie würden Egos zerstört, private Beziehungen zerschmettert, Kriege provoziert. Nun ja, das geht auch mit ihnen …
Wurde neulich von einem Kumpel gefragt, ob ich einen einmaligen Seitensprung gestehen würde. Vermutlich nicht … Klar, bei manchen Lügen drückt das Gewissen, dass es einem aus dem Kragen herausquillt wie aus einer vollen Windel. Die Wahrheit mag befreiend sein – oder aber einfach nur das Problem zum anderen rüberschieben.
Alle schreien nach der Wahrheit, wirklich ertragen wird sie eher selten. Wir ermahnen unsere Kinder, immer ehrlich zu sein – und tadeln sie dafür, wenn sie sagen, dass Oma aus dem Mund riecht wie abgestandenes Blumenwasser.
Gibt gute Lügen und schlechte. Schlecht ist eine Lüge, wenn bewusst falsche Informationen weitergegeben werden, nur um einen eigenen Vorteil zu bekommen. Eine gute Lüge dagegen gehört zum Fundament unseres Zusammenlebens. Prosozial ist sie, hinter ihr stehen altruistische Motive, weil wir nicht wollen, dass andere vor den Kopf gestoßen werden. Partner zum Beispiel, Omis oder der Kollege.
"Sehr witzig!", antwortet der mit zitternder Unterlippe. Ist natürlich gelogen. War gar nicht witzig, war gemein. Unangebracht außerdem. Bin heute Morgen wohl mit dem falschen Bein aufgestanden. An einem guten Tag hätte ich ihm lächelnd ins Gesicht gelogen.