Dieser Arm, es ist ihr linker, sieht gewichtig aus, träge ist er nicht. Aktive Masse. Das Insekt kann sich glücklich schätzen, dass die 31-jährige Schwanitz nicht mit der anderen Hand ausgeholt hatte. Mit rechts ist sie Weltmeisterin im Kugelstoßen. Aber natürlich wurde sie das nicht mit nur einem Arm.
Wer sich für eine Sportart entscheidet, entscheidet sich auch für eine Silhouette. Eine Kugelstoßerin ist anders gebaut als eine Sprinterin, eine Eisschnellläuferin anders als eine Tennisspielerin. Wäre Christina Schwanitz beim Tennis geblieben, hätte sie heute wahrscheinlich eine ähnliche Figur wie Serena Williams. Groß, muskulös und weiblich. Aber wäre sie im Tennis an die Weltspitze gekommen? Schwanitz sagt, Kugelstoßen habe sie gefunden, nicht umgekehrt. Dass sie in diesem Sport richtig ist, zeigte schon ihr erster Versuch. „Ich erinnere den Tag genau“, sagt sie. „Es war sehr heiß, gleißende Sonne, die Kugelstoßanlage von Bäumen umsäumt. Wir waren in der neunten Klasse und hatten alle zum ersten Mal so eine Eisenkugel in der Hand. Und ich hab die auf Anhieb weiter gestoßen als die besten Jungs.“ Zwei Meter weiter. Der Lehrer geht von einem Ausrutscher aus, erkennt aber bei den nächsten Versuchen, dass Talent im Spiel sein muss. Er fragt das Teenager-Mädchen, ob es bei einer Stadioneröffnung antreten möchte. „Da hab ich dann mit fünf Metern Vorsprung gewonnen. Ohne Training, ohne irgendwas. Einfach hingehen, gewinnen – fetzt!“
Verglichen mit den Klassenkameradinnen war Christina Schwanitz immer ein bisschen mehr. Aber diesen Vergleich ließ sie gar nicht erst zu: „Man kann doch nichts dran ändern. Ich war ganz schnell stolz auf meine Muskulatur. Ich hatte eine schöne Schulterpartie, eine Definition der Oberarme und Oberschenkel. Welche Frau hat schon einen Oberschenkel, der aus Muskulatur besteht?“
Gehänselt wurde sie nicht wegen ihrer Statur, sondern weil sie vom Land kam und als Erste losmusste, um pünktlich zu Hause zu sein.
Eine Kugelstoßerin darf auch weiblich sein. Sie darf Brust haben, Po und Bauch. Beim Sprintlauf hingegen spielt es durchaus eine Rolle, welche Körbchengröße eine Athletin hat. „Ich fühle mich wohl auf dem Sportplatz, mit dicken Armen und kräftiger Schulter … nein, okay“, lenkt sie ein, „mein Bauch ist nicht so, wie ich mir das vorstelle.“ Und wenn die Wettkampftrikots sehr eng geschnitten sind „und dann die Sprintermädels vorbeikommen, bauchfrei, weil da sonst was im Wind flattert“, dann verspürt sie sachte den Impuls, den Bauch einzuziehen. Passive Masse.
Von nix kommt nix. Im Hochleistungssport meint das nicht nur den Fleiß, den die Athleten aufbringen, sondern auch die körperlichen Voraussetzungen. Die eigene, naturgegebene Statur gibt durchaus vor, welche Sportarten einem liegen könnten. Als Schwanitz neun Jahre alt war, hob sie erstmals ihren Vater hoch, 90 Kilo, „hat Spaß gemacht“. Später zeigte sich: „Mit mir und dem Tennis wäre es nichts geworden, weil meine Muskulatur damals schon zu massig war für das Gelenk. Als ich wuchs, kamen die Knieprobleme.“ Ihr war klar: „Ich will mich auspowern, und ich habe Kraft. Ich laufe extrem ungern, aber Sprints und Sprünge mag ich. Schnelle, spritzige Bewegungen.“
Nicht wenige Typen haben die Kugelstoßerin schon zum Armdrücken herausgefordert. Freundlich wie sie ist, lässt sie dann die niedlichen Knopfaugen blitzen und warnt vor: „Du weißt schon, was mein Job ist?!“ Wenn sie also wieder mal einen Männerarm umgelegt hat, erfährt sie keine Anerkennung, sondern Frust: „Du bist ja mehr Kerl als Weib, sagen die dann.“ Dass das ganz schön wehtut, kann sich jede denken.
Christina Schwanitz’ Traumberuf nach dem Hochleistungssport ist Erzieherin. Den Kindern könnte sie einfache, aber wichtige Sätze mit auf den Weg geben: „Es gibt jeden Menschen nur einmal. Wir sehen alle anders aus.“ Oder: „Jeder Mensch ist schön. Man muss sich nur die Zeit nehmen, das herauszufinden.“ Und für Erwachsene hat sie folgenden Rat: „Wenn im Geschäft eine Hose gut sitzt, nimm zwei.“