Der Mann, der in meiner alten Heimat die Sozialstation der Caritas leitet, sieht aus wie Daniel Craig in heiter. Stahlblaue Augen, durchtrainierte Unterarme – und Lachfältchen. Er wirkt energiegeladen für zwei. Wenn man den vielleicht 50-Jährigen sieht, ist man Lichtjahre von Themen wie Pflegebedürftigkeit, Toilettenstuhl oder Demenz entfernt. Und wenn man ihm zu- hört, bekommt man den Eindruck, es wäre halb so wild, einen Elternteil zu haben, der soeben Pflegestufe II bekommen hat: 4000 Euro Zuschuss hier, ein Bonus da, ein Krankenbett gäbe es ja sowieso umsonst. "Sie könnten sogar“" sagt er zu meinem Vater, "ihren Sohn bezuschusst in Hamburg besuchen und ihre Frau ein paar Wochen in die Kurzzeitpflege geben."
Ich wünschte mir, ich hätte nur halb so viel positive Energie wie er. Aber ich fühle mich wie ein ausgewrungener Lappen und habe Probleme, mir alles zu merken, was er zum Thema Pflegegeld und Co. sagt. Denn das ist, so weiß ich jetzt, ein weites Feld. Und ich kann jedem nur empfehlen, sich rechtzeitig damit zu beschäftigen und sich eine Pflege- und Vorsorgevollmacht zu besorgen. Denn die sind das A und das O, wenn die Eltern allmählich alt werden.
Es ist erstaunlich, wie rasant sich Dinge verändern, ja komplett ins Chaos kippen können, die man jahrelang mit "Wenn es mal so weit ist…" abgetan hat. Meine Eltern sind 76 und 78. Und seit Kurzem ist klar, dass meine Mutter nicht mehr ohne fremde Hilfe zurechtkommen wird – und dass mein Vater bei aller Liebe mit der Fürsorge überfordert ist. Ende des Jahres entschied er, das Haus zu verkaufen und in eine kleinere, barrierefreie Wohnung zu ziehen. Ob Mama wirklich dauerhaft mitkommen kann oder nicht, wird sich noch herausstellen. Beim Entscheiden soll uns unter anderem Herr Craig hier helfen.
Corona macht alles nicht leichter
Geben wir Mama wirklich für ein paar Wochen in die Kurzzeitpflege eines Seniorenheims, um den Umzug durchzuziehen, oder gestehen wir uns gleich ein, dass sie da vielleicht auf Dauer besser aufgehoben wäre? Die Entscheidung ist zu Corona- Zeiten noch schwieriger als sonst. Wer weiß schon, wann das nächste Besuchsverbot droht oder ob die nächste Welle nicht genau diese Einrichtung trifft. Dazu kommt dieses schlimme Gefühl, mehr zu wissen als sie selbst, die sich mit vollen Kräften bemüht, nicht aufzufallen. Es kann noch mal besser werden, sagen die Ärzte, je nachdem, wie sich ihre Krankheit entwickelt, ob es wirklich beginnende Demenz ist, eine Altersdepression, eine bipolare Affektstörung, oder ob sich alle drei im Kopf und Nervensystem meiner Mutter die Klinke in die Hand geben.
Eine andere Lösung, als das Haus zu verkaufen, gibt es nicht. Es ist für mich schleichend vom Wohlfühlort zum Spukschloss geworden: für meine gangunsichere Mutter, weil sie bei jeder Treppenstufe zu stürzen droht (einen Treppenlift lehnt sie mit aller Entschiedenheit ab), für meinen Vater, weil ihn die anfallende Arbeit in Haus und Garten zu erschlagen droht. "Das ist dann also die Endstation", sagt er etwas schief grinsend bei der Besichtigung der neuen Bleibe. Obwohl sie hell, wohnlich, ja sogar stylish und für meine Eltern perfekt ist, denn Gärtner und Hausmeister erledigen alles, werde ich nicht warm mit ihr. Immerhin hat Papa seinen Humor nicht verloren, denke ich und frage mich einmal mehr, woher er diese Riesendosis Resilienz hat. Ich versuche in diesen Tagen herauszufinden, wie viel ich davon mitbekommen habe. Natürlich war schnell klar, wer meinen Eltern bei diesem Kraftakt zur Seite stehen, nein, ihn fast allein stemmen würde: Ich habe keine Geschwister, keine Kinder und arbeite freiberuflich, zudem ist Corona überall, also bleibt die Arbeit am besten in der Familie. Dazu bin ich, finde ich, strenggenommen nicht verpflichtet, auch wenn ich mich irgendwie dazu verpflichtet fühle, obwohl meine Eltern meine Hilfe niemals eingefordert hätten. Kurzum: Ich mach das jetzt.
Zurück im Kinderzimmer
Wenn erwachsene Kinder wieder bei ihren Eltern einziehen, spricht man vom Bumerang-Effekt. Viele tun das, weil sie die Phase nach einer schmerzhaften Trennung, sei es vom Partner oder dem Job, eine Zeit lang überbrücken und sich sortieren wollen. Mit Anfang 40 bin ich jetzt also auch so ein Bumerang-Kind. Aber nicht, weil ich Beziehung oder Job verloren hätte oder mich vor der Welt im heimatlichen Schoß verkriechen will. Nein, nicht um mich zu sortieren, sondern um auszusortieren bin ich hier. Unter anderem. Und seit vier Wochen ist jeder Tag hier tatsächlich so hart wie ein mit Schmackes geworfener Bumerang, der mir jeden Morgen direkt ins Gesicht fliegt, während mein Gehirn ohnehin längst vor lauter Stress zu Brei geworden ist.
Ich mache für euch alles außer Pflege, das war meine Bedingung, bevor ich mein Leben in Hamburg vorübergehend auf Eis legte. Gepflegt werden muss hier momentan noch niemand, aber ich habe auch so mehr als genug zu tun. Ich bin Chauffeur, Kurier, kontrolliere Medikamente, diskutiere abwechselnd mit den Stadtwerken, der neuen Hausverwaltung, dem Makler, der psychosomatischen Klinik und dem Pflegeheim, um herauszufinden, wo meine Mutter im nicht unwahrscheinlichen Fall eines Zusammenbruchs besser aufgehoben wäre.
Dazwischen jongliere ich meine beruflichen Aufträge, schmeiße den Haushalt, befreie den Keller von so viel Kram, dass man damit vier andere Häuser ausstatten könnte, und fahre in Möbelhäuser, weil nicht mal ein Drittel der alten Sofalandschaft ins neue Wohnzimmer passt. Alle Profi-Entrümpler aus dem Umkreis haben leider erst in ein paar Wochen Termine frei, zu spät, denn natürlich soll das Haus präsentabel aussehen, wenn in Kürze die Kaufinteressenten Corona-konform durchgeschleust werden. Also rödel ich jeden Morgen wie ein Bekloppter: entsorge Altpapier, stopfe Altkleider und Hausrat in blaue Müllsäcke, zerkleinere alte Schrankwände, um sie wegzuschaffen. An die 20 Hektoliter Sperrmüll stehen hier rum. "Hätten wir das mal eher gemacht", sagt mein Vater. Das "Hätte, hätte, Herrentoilette" verkneife ich mir.
Wenn die Eltern zu "Kindern" werden
Wenn man Kinder großzieht, dann tut man das im Optimalfall selbstlos und ohne Erwartungen. Man möchte, dass sie ein gutes Leben haben. Und deshalb steht man anfangs bis zu zehnmal in der Nacht auf und findet, wenn sie größer sind, manchmal nicht in den Schlaf, aber nichts wird einem zu viel. So ist es jetzt mit meinen Eltern auch – nur umgekehrt und mit dem Unterschied: Mir wird alles zu viel, und aus ihnen wird nichts mehr werden, im Gegenteil, sie waren schon, und jetzt werden sie weniger. Ich kann nur unterstützen, damit ihr Leben möglichst lebenswert bleibt.
Manchmal schlafe ich weit vor 21 Uhr ein, mit dem Handy in der Hand und dem Laptop auf der Brust, weil ich hier oben in meinem alten Kinderzimmer endlich Zeit und Ruhe gehabt hätte, einen seit drei Tagen überfälligen Rückruf zu tätigen oder endlich eine Mail zu beantworten. Meine Freunde und Freundinnen raten mir dringend, auch an mich zu denken, eine Woche wieder in meinem eigentlichen Zuhause in Hamburg aufzutanken, aber ich frag mich: Wer macht dann hier alles? Ich möchte das jetzt durchziehen, bis der Umzug über die Bühne ist und meine Eltern sicher in ihrem neuen Zuhause angekommen sind.
Ich wünschte, ich wäre wie Obelix und könnte alle Probleme einfach wegklatschen, die sich täglich aufs Neue wie die Heerscharen der Römer in meinen "Asterix"- Heften von früher auftun. Oder ich hätte Superkräfte wie Superman und seinen Körper mit extrem hoher Molekularstruktur, könnte durch die Lüfte fliegen und meine Mutter an einen sicheren Ort bringen, wo alles gut ist. Oder ich wäre eben wie mein Vater, der die Gabe besitzt, allzu Unangenehmes auszublenden oder mit Humor zu betrachten. Ich bin keiner von den dreien.
Achterbahn der Gefühle
Auch wenn das alles körperlich brutal anstrengend ist und ich nicht nur Rücken, sondern schon die zweite schmerzhafte Zerrung habe, will ich mich darüber nicht beschweren – doch ganz ohne Nörgeln und Vorwürfe schaffe ich es nicht. Auch auf der emotionalen Ebene ist das hier zu viel. Manchmal bin ich wütend auf meine Eltern, dass sie das "Sich-Verkleinern" nicht schon vor zehn Jahren gemacht haben. Manchmal bin ich einfach nur traurig, dass sie vor meinen Augen immer schwächer werden. Im nächsten Moment aber bin ich voller Liebe.
Über die Wochen musste ich lernen: Schlimmer geht immer! Weil ich mit meinen Kräften am Ende bin, sind es oft kleine Nachrichten, die zu Hiobsbotschaften werden. Eines Morgens im Keller hält sich mein Vater, der hilft, wo es geht, die Leiste und sagt: "Der Bruch kommt durch." Er hat schon länger einen Leistenbruch, das aber verschwiegen. Weil er keine Schwäche zeigen will und weiß, dass auch ich ihn brauche. Kurz darauf hat er eine fette Erkältung, die mich gleich das Schlimmste denken lässt…
Woher nehmen Menschen, die sich um Angehörige kümmern, bloß ihre Kraft? Ich bin schon nach vier Wochen völlig erledigt, versuche, regelmäßig zu meditieren. Doch ich kann nicht loslassen. Bei jedem Geräusch denke ich, ich muss nach Mama sehen. Rotwein ist eine tolle Erfindung für die Instant-Entspannung abends, aber natürlich keine Dauerlösung – und er verkürzt meine Tiefschlafphasen. Auch beim Skypen mit Freunden am Abend werden mir schnell die Lider schwer, und ich gestehe: Für die Storys und Probleme anderer fehlen mir die Kapazitäten. Trotzdem ist jede Whatsapp-Nachricht von "da draußen", jedes aufmunternde Wort, jede angebotene Hilfe wichtig für mich – auch wenn ich sie nicht annehme. Corona, Risikogruppe und so weiter.
Eine verlässliche Kraftquelle habe ich trotzdem gefunden: Jeden Morgen laufe ich eine Stunde im Wald, bei jedem Wetter. "Du bist ein toller Sohn", sagte mein Vater letztens. Es ist ein Satz, für den ich mir nichts kaufen kann, den ich mir andererseits aber auch niemals kaufen könnte. Also klopfe ich mir auf die Schulter. Ich weiß, alles, was ich für die beiden mache, ist gut und richtig und wichtig. Das weiß auch mein Vater. Und ganz sicher spürt es auch meine Mutter, die oft gar nicht mehr so viel mitbekommt. Eines Abends aber kommt sie auf mich zu, ist plötzlich für ein paar Augenblicke ganz klar, umarmt mich etwas zittrig und sagt: "Ich liebe dich. Danke für alles, mein Schatz."
Das warme Gefühl in meinem Herzen wird von einem regelrechten High abgelöst, das alle mir unbekannten Reserven mobilisiert. Ich fühle mich wie Obelix, Superman und Superagent James Bond alias Daniel Craig zusammen. Und ich weiß wieder ganz genau, warum ich all das hier mache.
Zum Schutz seiner Familie änderte unser Autor sowohl seinen Namen als auch einige zu offensichtliche Details.