Lieber Phillip,
versteh mich nicht falsch: Ich bewundere dich. Dass du diesen Entzug geschafft hast und dich jeden Tag aufs Neue dafür entscheidest, drogenfrei zu leben – Wahnsinn. Vorbei all diese Jahre voller Lügen, Zweifel, wachsendem Misstrauen, Tränen und Entfremdung ... Es hat lange gedauert, bis ich aufgehört habe, mich zu schämen, dass ich als deine beste Freundin es nicht geschafft habe, dich zu retten. Bis ich begriffen habe, dass deine Sucht eine Krankheit ist und weder mit Charakterschwäche deinerseits, noch Versagen meinerseits zu tun hat.
Und es hat fast genauso lange gedauert, zu verstehen, dass sich mit deiner Abstinenz auch unsere Freundschaft ändern würde. Die Ehrlichkeit ist zurück, wir setzen uns bewusster miteinander auseinander. Gerade anfangs war das fürchterlich anstrengend.
Die ganzen Themen, die mit deinen Therapien hochgeholt wurden, galt es weiter auszudiskutieren – nicht selten über die Grenzen meines Bedarfs hinaus. Natürlich war das überlebenswichtig für dich, aber auch für uns. Dass wir heute immer noch peinlich lang über Scheiße-Witze lachen, erklären Psychologen damit, dass wir anknüpfen an den uns verbindenden Humor aus Teenagerzeiten. Und jedes Mal wird mein Herz leicht, wenn ich merke, dass wir wieder albern sein können. So wie früher.
Aber verdammt noch mal, manchmal fehlt es auch mir, mit dir bis zur Besinnungslosigkeit Tequila zu trinken. Auf die Freundschaft. Auf das kurze Leo-Röckchen neben dem Kicker. Auf die türkische Pizza, die wir nachher noch dringend bei „Babylon“ essen müssen. Augenblicke der Unvernunft, des Wildseins, ein Ausbruch aus dem geordneten Leben, das wir mittlerweile alle führen und ein Flashback in alte Zeiten, in denen gewiss nicht alles besser war, aber in denen wir diese eingeschworene kleine Gemeinschaft bildeten, der die Barwelt zu Füßen lag.
Ich schaue unsere alten Fotos durch. Und ich kann bei jedem Bild sagen, ob wir nüchtern waren, betrunken, bekifft oder Koks im Spiel war. Es gibt Bilder, da sitzen wir an dem Esstisch, an dem mein Sohn heute seine Schularbeiten macht und ich blanchierten Pak Choi serviere. Wir liegen uns in den Armen, gucken mit großen Pupillen in die Kamera, vor uns eine Kreditkarte, Graskrümel und Zigarettenasche.
Während ich meine exzessiven Ausflüge an diesen Bildern abzählen kann, ging es mit dir zunehmend auch im Alltag mit den Drogen weiter. Ich selbst hatte immer Glück, dass mein Körper über ein natürliches Regulativ zu verfügen scheint, das gegen zu viel Gift aufbegehrt. Ich mag es, mir meiner bewusst zu sein – noch lieber als das Bewusstsein zu verlieren. Aber ich verstehe auch, dass es bei dir vieles gab, was du lieber vergessen gemacht hast.
Nein, natürlich ist alles ist gut, wie es ist. Wenn wir ehrlich sind, waren auch viele der letzten Ausgehabende beschissen. Du bist deinen eigenen Film gefahren, ich war nur noch Mittel zum Zweck und von richtig lustig war schon lange keine Rede mehr. Jetzt haben wir uns wieder.
Wenn die Sehnsucht zu groß wird, setze ich mich in den Flieger und wir treffen uns mit unseren „tres amigos“ beim Kiez-Italiener und essen genau das, was wir vor 20 Jahren schon bestellt haben. Mit dem Unterschied, dass vier von uns dazu den Fuselwein von damals kippen und du bei Cola bleibst. Die rote. „Zucker und Zigaretten, das sind jetzt meine Drogen“, sagst du. Und wir stoßen auf dich an.
Charolastra, Chaolo, Sarah
Phillip, 44, heißt ganz anders. Obwohl er seit längerer Zeit abstinent lebt, weiß er, dass seine Vergangenheit ihn heute noch den Job kosten könnte
Liebe Sarah,
wenn ich an den Morgen unseres entscheidenden Gesprächs denke, kriege ich immer noch Gänsehaut. Du sagtest, dass du den Kontakt abbrichst, solange ich nicht endlich einen Entzug mache. Sagtest, dass du vor allem nicht mehr wolltest, dass ich deinen kleinen Sohn babysitte – das Risiko sei dir zu groß, dass ich bekifft auflaufe. Das saß. Es war ohnehin schon alles in die Brüche gegangen: Ich hatte meinen Job in der Bank verloren, meine Beziehung gegen die Wand gefahren und ich hatte 50 000 Euro Drogen-Schulden. Kokain ist teuer.
Du weißt, dass du mir Familie bist. Deswegen war fast das Schlimmste, dich so unendlich traurig zu sehen. „Ich habe das Gefühl, dass ich dir keine gute Freundin bin, ich weiß nicht mehr, wie ich dir helfen soll“, hast du damals zu mir gesagt. Und ich habe nur gedacht: Scheiße, ich darf Sarah nicht verlieren, das darf einfach nicht passieren.
48 Stunden später stand ich auf der Krankenhausmatte und checkte zu einem sechswöchigen Entzug ein. Clean zu werden, war nicht so schlimm. Es zu bleiben, ist die Herausforderung. Ich erinnere noch, dass ich drei Wochen nach dem Krankenhausaufenthalt 40 wurde.
Zehn Jahre zuvor hatten wir noch in einer Punkbar am Hafen zusammen Geburtstag gefeiert – ich erinner mich trotz Filmriss. Jetzt lud ich euch alle zu einem Brunch ein. BRUNCH, Sarah, wie scheiß-spießig ist das denn?! In dem Moment hat das Sinn gemacht, aber richtig geil geht anders.
Ich konnte ja auch verstehen, dass ihr alle unsicher wart. Aber, Scheiße, plötzlich wollte niemand mehr mit mir ausgehen. Kaffee trinken, Kino, spazieren – das war mein neues Leben. Ich habe dich dann ziemlich schnell gepackt und dir gesagt, dass ich wieder mitwill. Abends. Dass es nichts Bittereres gibt, als schon im Vorfeld ausgegrenzt zu werden und dass es in meiner Verantwortung liege zu sagen, ob ich es heute nüchtern ertrage oder ob ich wackele.
Um an Drogen zu kommen, müsse ich nicht mit dir ausgehen, die gibt’s an jeder Ecke, zu jeder Tageszeit zu kaufen. Ich kenne mich: Wenn man mir etwas kategorisch verbieten will, bocke ich. Also setze ich mir Etappen-Ziele: einen Englischkurs, den neuen Job im Kindergarten, jetzt die Ausbildung zum Erzieher. Jeder Tag clean zählt. Und gerade die Zusammenarbeit mit den Kids hilft sehr.
Natürlich packt mich auch manchmal die Wehmut nach der Whiskyflasche hinter der Theke, auf der krakelig in schwarzem Edding unsere Namen standen. Und klar würde ich auch gern mal wieder vor einem Date einen Drink nehmen, um locker zu werden. Es ist schon krass, wie ich jahrelang mein Selbstbewusstsein mit Drogen aufgebläht habe – und wie sehr ich ohne auf mich allein gestellt bin. Am meisten aber vermisse ich es, mit dir bekifft Musik zu hören. Oder bekifft einen Film zu sehen. Oder bekifft einkaufen zu gehen – du siehst, genau hier liegt das Problem –, ich finde bekifft einfach alles super und wenn ich ehrlich bin, gab es zwischen 15 und 40 kaum einen Tag, an dem ich nicht stoned war.
Wenn wir heute einen dieser seltenen Abende haben, an denen du, Angry Bird und Marcel mal so richtig abstürzen, genieße ich das mehr, als ihr ahnt. Ihr seid die süßesten Besoffskis, die es gibt. Glaub mir, auch wenn ich natürlich Lust habe, ein Glas mit zu trinken, genieße ich es auch, uns zu beobachten. Ich bin einfach so dankbar, dass es uns noch gibt. Ich weiß, dass war ’ne knappe Kiste, Sarah.
Deswegen geht das in Ordnung mit dem drogenfreien Leben. Und wenn ihr drei dann irgendwann so richtig rührselig betrunken seid, mich umarmt und mir einen dicken Kuss auf die Wange drückt, dann bin ich glücklich. Sieh es so: Ihr kompensiert in solchen Momenten meine Unzulänglichkeit, nüchtern auf euch zuzugehen und zu sagen, wie wichtig ihr mir seid.
Danke. Für alles. Dein Phillip