Der Gedanke an den Tod ist jetzt nichts, was mich in gute Laune versetzt. Im Prinzip tue ich alles, um ihn zu vermeiden, den Gedanken – und natürlich auch den Tod.
Doch spätestens seit dem vergangenen Frühjahr ist es kaum möglich, auszublenden, dass gestorben wird. Die Nachrichten melden jeden Morgen in verlässlicher Nüchternheit eine Zahl. Die Zeitungen sind voll von Schicksalen und Nachrufen. Also habe ich doch mal nachgedacht, was es über mich zu sagen gäbe, zu guter Letzt.
Wenn ich nur das Corona-Jahr betrachte: viel Gejammer, viel Stillstand, viel Netflix. Nichts, was ich in der Trauerrede zu meiner Beerdigung in 110 Jahren oder so erwähnt haben möchte. Aber was denn dann? Ich besuche Marco Ammer, der nicht nur Schauspieler und Moderator ist, sondern seit fünf Jahren auch freiberuflicher Trauerredner. Wenn mir einer helfen kann, das Gute im Leben zu sehen, dann er. In knapp vier Stunden wird er mir ein paar absolute Basics erklären. Eigentlich dauert eine Ausbildung zum Redner an der Trauer-Akademie in Berlin, wo Marco Ammer unterrichtet, vier Wochenenden. Dort geht es neben dem Schreiben und Sprechen auch viel um das Verständnis von Trauer und den Umgang mit ihr. Aber ich bin nicht hier, weil ich mich vorrangig mit dem Tod beschäftigen möchte. Sondern mit dem Leben. Wie feiert man es, wie würdigt man es? Marco Ammer ist schließlich ein integraler Bestandteil der letzten Lebensfeier, auch wenn sie dann andere für einen ausrichten.
Und man wird doch gefeiert. Oder? Über Tote nur Gutes. "Nein, man muss über Tote nicht nur Gutes sagen. Selbst auf der Beerdigung nicht", sagt Marco Ammer, der Mitte 40 ist und im Übrigen überhaupt nichts Bekümmertes oder Schweres an sich hat. Aber jetzt guckt er ernst: "Man sollte Gutes nur sagen, wenn es auch wirklich stimmt. Wenn meine Trauerrede davon handeln würde, was für ein liebevoller, auf- opferungsvoller Vater und Ehemann der Verstorbene war, obwohl mir seine Söhne im Vorgespräch erzählt haben, wie er sie früher geschlagen hat, dann verspiele ich jede Glaubwürdigkeit. Andere wissen ja, dass das nicht stimmt." Man könne daher durchaus sagen: "Es war nicht immer einfach, mit ihm zusammenzuleben." Richtig ist allerdings, dass die Schattenseiten der Persönlichkeit, und seien sie noch so groß, nicht unbedingt im Mittelpunkt stehen. Dafür müsse man aber nicht lügen, sagt Marco Ammer. "Es gibt eigentlich über jeden Menschen Gutes zu sagen. Selbst wenn jemand furchtbar zu seiner Familie war, war er vielleicht für jemand anderen ein guter Freund. Ein hilfreicher Kollege. Ein berufliches Vorbild. Irgendwas."
Es geht also um Gewichtung, aber eben auch ums Umschreiben und Weglassen. Ähnlich wie bei Arbeitszeugnissen. Mir kommt als erstes Übungsobjekt unweigerlich Donald Trump in den Sinn. Und die Frage, was eines Tages Gutes über ihn gesagt wird. Vielleicht: Er blieb sich stets treu. Oder: Er gab nie auf.
Und was ist mit mir? Möchte ich als berufliches Vorbild in Erinnerung bleiben, weil es sonst nichts Positives zu berichten gibt? Oder als eine, die nett zu Bekannten war, jedoch oft ungehalten gegenüber denen, die ihr wirklich nahestanden? Den Gedanken fände ich furchtbar. Aber er trifft auf mich auch nicht zu, oder? Allerdings: Ich könnte manchmal geduldiger mit meiner Mutter sein.
So schnell geht das also. Ein paar unbequeme Fragen, schon hat man ein Thema. Das wirklich Gute: Solange man unter den Lebenden ist, kann man das angehen. Aber dafür muss ich erst mal wissen, was Sache ist und wie meine Nächsten über mich denken. Ich rufe daher in der Mittagspause meinen Freund an, der Mensch, der mir am nächsten ist: "Sag mal, was würdest du einem Trauerredner über mich erzählen?" Nach einem längeren Augenblick der Verblüffung antwortet er: "Dass du ein unglaublich liebevoller, warmherziger, wirklich guter Mensch bist, ähm, warst" – Ah! Ein paar Tränen der Rührung schießen mir ins Auge – "der manchmal mit sich haderte." Oh. Nun gut. War ja klar, dass ihm das irgendwann aufgefallen ist.
Marco Ammer hat den verstorbenen Menschen meist nicht kennengelernt, fasst zusammen, was Angehörige ihm berichten. Zunächst schickt er einen Fragebogen, in dem er Rahmendaten abfragt – Geburtsort, Geschwister, Stationen des Lebens –, "so kann ich mich beim persönlichen Gespräch auf das Wesentliche konzentrieren". Und das Wesentliche ist eben nicht, dass man nach seinem BWL-Studium irgendwann mal stellvertretender Abteilungsleiter im Controlling war, sondern: Momente, die bleiben. Gute Erinnerungen. Kennenlerngeschichten. Der schönste Urlaub. Das Essen mit Freunden einmal vor Weihnachten, wo alles gestimmt hatte. "Ich frage gezielt nach den positiven Erlebnissen. Die negativen kommen von ganz allein und sind auch wichtig", sagt er. Vor allem, wenn die letzten Jahre schwer waren.
Schon wieder denke ich an mein vergangenes Jahr, und natürlich fällt mir alles ein, was ausgefallen ist – Feiern, Konzerte, Urlaube – und ersetzt wurde durch gleichförmige Tage im Homeoffice. Aber, natürlich: Da gab es auch den warmen Sommerabend mit K. am und im Schlachtensee. Spaziergänge zu zweit durch menschenleere Straßen. Gemeinsames Kochen von aufwendigen Gerichten, für die wir sonst nie Zeit hatten. Die langen Telefonate mit Freunden, wo die Gespräche manchmal so viel inniger und intimer waren als bei den sonst üblichen Kneipentreffen in größerer Runde. Allein die Erinnerung daran macht mich sofort glücklicher. Wann habe ich mich das letzte Mal dafür bedankt, dass diese Menschen in meinem Leben sind?
Ich beschließe, noch eine weitere Stimme zu hören, und rufe meinen langjährigen Freund F. an, den ich für seine Ehrlichkeit und seinen Witz schätze wie fürchte. Nachdem er ein paar Scherze gemacht hat ("Ich würde anmerken, dass du große Angst vor Hunden hattest und daher Probleme mit dem Höllenhund Zerberus bekommen wirst"), fallen Adjektive wie lustig, wissbegierig, offen für Neues und was für eine tolle Reisebegleitung ich gewesen sei. Aber auch: Neigte dazu, sich über bestimmte Bedingungen immer wieder zu beklagen, anstatt sie zu ändern. "Ich würde dem Trauerredner auch sagen: Ich habe sie manchmal um ihr Talent und ihre Möglichkeiten beneidet und hätte ihr gewünscht, dass sie selbst damit zufriedener ist", sagt er. Autsch.
Ist es das, was ich von einem meiner besten Freunde über mich hören wollte? Nein. Dies ist die Stelle meiner Persönlichkeit, die mir zwar irgendwie bewusst ist, die ich aber lieber nicht so genau anschaue. Doch: Nur, was man erkennt, kann man ändern. Oder auch so lassen, je nachdem. Auf jeden Fall: bewusst entscheiden, was genau man damit anfängt.
Die Reden, die ihm am schwersten fallen, sagt Marco Ammer, sind die, bei denen er sich von dem Menschen kein rechtes Bild machen kann: "Ich will ihm und seinem Leben in meiner Rede möglichst gerecht werden und versuche meist auch noch von einer zweiten oder dritten Person, von Geschwistern oder Freunden, etwas zu erfahren. Aber selten kommt es eben doch vor, dass ich trotzdem hinterher kaum mehr weiß als ‚ging gern essen und achtete auf sein Äußeres‘." Weil keiner sie oder ihn richtig gut kannte.
Dieser Gedanke macht mich so traurig. Ich möchte sofort mit den Menschen sprechen, die ich besonders mag, möchte ihnen sagen, was ich an ihnen schätze, solange sie es noch hören können. Ich möchte Erinnerungen schaffen, die mich erfreuen. Und mir bewusster machen, wofür ich von anderen erinnert werden möchte. Ich habe viel zu tun, verabschiede mich von Marco Ammer, trete raus auf die Straße und atme die Berliner Winterluft ein. Wie schön, dass es ein Leben vor dem Tod gibt.
Marco Ammer bildet Trauerredner*innen aus: trauer-akademie.de/reden. Er ist ehrenamtlich als Sterbe- und Trauerbegleiter tätig.