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Selbstforschung Bleib so, wie du bist

Lena Schindler: eine Frau mit dunklen Locken umarmt sich selbst in einem Feld
© Hector / Adobe Stock
Unsere Autorin ist plötzlich umgeben von Menschen, die in ihr Innerstes reisen oder eine bessere Version ihrer selbst werden wollen. Muss man da mitmachen?

Die erste Gartenparty seit zwei Jahren. Ich stehe am Buffet und versuche mich an die Kunst des Small Talks zu erinnern. "Woher kommst du?", frage ich die sympathische Frau, die sich Hummus, Petersiliensalat und Fladenbrot auf den Teller häuft. Ich tippe auf Köln oder Dortmund. Doch so einfach ist das nicht. "Du, ich bin gerade mitten in einem Prozess, eine wunderschöne Reise, total deep." Eine einfache Frage, schon finde ich mich in einem Gespräch über Selbstfindung wieder. Glaubenssätze. Inneres Kind. Selbstliebe. Passiert mir gerade dauernd. Das Angebot an Lebenshilfe ist so erschlagend wie die Honorare, die oft dafür verlangt werden. Leute machen schamanische Reisen, gehen ins Schweige-Retreat oder zur Sexologin. Kaum ein Jobgespräch wird geführt, ohne vorher einen Konflikt-Coach konsultiert zu haben. Wer erfolgreich arbeiten, lieben, schlafen oder Pilze sammeln will, braucht heute jemanden, der ihn systemisch anleitet. Ganz allein kriegen wir offensichtlich nichts mehr gebacken.

Irgendwie absurd. Trotzdem frage ich mich dann und wann: Verplempere ich etwa mein ganzes Potenzial, wenn ich da nicht mitmache? Bleibe ich auf einem Haufen verschütteter Möglichkeiten hocken, anstatt meinem wesentlichen Ich zu begegnen? Bin ich vielleicht sogar eine Zumutung für andere, weil ich mich gar nicht ändern will?

Meine Verweigerungshaltung kommt wahrscheinlich – ja, ich sehe die Steilvorlage – aus meiner Kindheit und Jugend. Mein familiäres Umfeld: ein Nest seelischer Entwicklungshilfe. Fans von Tarot, Reiki und Klangschalen trafen auf Psychotherapeuten und deren Jünger. Szenen, in denen wir in der Eisdiele mehrmals den Tisch wechselten, weil der Kellner angeblich unterschwellige Themen mit uns am Laufen hatte und wir uns abgrenzen mussten, hängen mir bis heute nach. Hatte ich Kopfschmerzen, schien es naheliegender, nach unbearbeiteten Konflikten zu forschen, als mir ein Glas Wasser anzubieten. Alles, was vorher schon verkorkst war, wurde noch komplizierter. Eigentlich machten sie aus einer Kleinigkeit ständig ein Riesending – und das soll dann "inneres Wachstum" sein?! Eins ist mir klar: Eine übermäßige Beschäftigung mit dem Ich birgt auch das Risiko, dass die Welt vor allem darum kreist. Und man so sehr bei sich ist, dass man die Grenzen anderer nicht mehr bemerkt.

Selbstforschung, muss das wirklich sein?

In mir hat sich also eine Sperre aufgebaut – vollkommen undifferenziert, wie ich zugebe, gegen alles, was mit Selbsterforschung und -optimierung zu tun hat. Nachdenklich macht mich allerdings, dass Leute, die mir wichtig sind, ausgerechnet ihre Erfahrungen in Sachen Persönlichkeitsentwicklung und Spiritualität zu den wichtigsten ihres Lebens zählen. Dann spüre sogar ich eine kleine Neugierde, mehr über mich zu erfahren. Dinge, die ich beackern könnte, hätte ich genug: siehe familiäres Umfeld. Aber trotzdem: Ich bin gar nicht so unzufrieden, wie ich angesichts meiner Baustellen sein könnte. Ja, mein Leben ist weit davon entfernt, perfekt zu sein, aber: Es passt so.

Nicht aber für jene, die bereits Erleuchtung erfahren haben. Denn die gehen mit ihrer frisch erworbenen Lizenz zur Lebensfähigkeit gern missionieren: Hey, ich habe eine Fortbildung im Sein gemacht und zeig dir jetzt mal, wie das läuft! Dauernd soll ich eine bessere Version meiner selbst werden, mich öffnen und einlassen.

Ein bisschen so wie bei Instagram: Auch da muss ich mich oft rechtfertigen, dass ich nicht mitmachen will. Es würde doch mein Leben so viel reicher, bunter, erfolgreicher machen. Sehe ich anders. Mein Drang, mich ins Zentrum der Welt zu rücken, ist genauso kümmerlich ausgeprägt wie mein Streben nach Heilung – solange sie sich nicht auf Schnittwunden oder eine akute Nasennebenhöhlenentzündung bezieht.

Lena Schindler hat manchmal Sorge, rücklings von einem Heilpendel niedergestreckt zu werden. Ob sich das behandeln lässt?

Barbara

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