Bevor sie Keegan zufällig auf dem Stationsflur begegnete, hatte die Ukrainerin kaum ein Wort gesprochen. Schwer traumatisiert von einem Bombenangriff in ihrer Heimat kam sie auf die psychiatrische Akutstation der Uniklinik Tübingen. Krankenpfleger Alfred Mollenhauer war mit seinem Hund eigentlich gerade auf dem Weg zu einem anderen Patienten, als sich die junge Frau spontan hinkniete und dem Labradoodle um den Hals fiel. "Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, sie sprach Ukrainisch, aber alles klang so liebevoll und warm", erinnert sich Mollenhauer. Er sitzt im Aufenthaltsraum des Pflegepersonals, vor ihm eine Tasse Kaffee, den Oberarzt Dr. Christian Frischholz gekocht hat.
Seit vier Jahren ist Therapiehund Keegan Mitarbeiter der Psychiatrie. Genauer: auf Station 11, einer geschlossenen Abteilung – wobei Mollenhauer lieber von einer "geschützten Station" spricht: "Es ist für die Patienten schöner, wenn es heißt: Ihr seid hier geschützt anstatt ihr seid hier eingeschlossen." Mollenhauer ist auch derjenige, der auf den Therapiehund gekommen ist – wobei er lieber von einer "tiergestützten Therapie" spricht: "Ist ja nicht so, als würde Keegan die Sitzungen abhalten", sagt er und lacht, "er ist nur hin und wieder bei welchen dabei." Manchmal schaut Mollenhauer auch einfach mit dem Hund bei einem Patienten oder einer Patientin vorbei, manchmal gehen sie dann zu dritt spazieren. Wenn ein Türöffner oder Trostspender gebraucht wird, setzt das Team gern Keegan ein. Beim Knuddeln mit ihm wird das Kuschelhormon Oxytocin ausgeschüttet. "Der Hund kann dabei helfen, Stress zu reduzieren und Ängste abzubauen. Im besten Fall gewinnt die Person Vertrauen und öffnet sich", erklärt Dr. Frischholz. Mit Medikamenten könne man biologische Voraussetzungen schaffen, wie eine Verbesserung der Stimmung. Psychotherapeutisch könne man an Gedankenmustern arbeiten. "Und dann gibt es noch die Ebene des Handelns, dazu zählt Erlebnistherapie wie Spaziergänge mit dem Hund oder klettern", sagt der Oberarzt.
Auch Mollenhauer möchte jetzt ins Handeln kommen, Keegan wartet ebenfalls auf seinen Einsatz. Der Labradoodle, der aussieht wie ein Labrador mit Dauerwelle, weil in der Kreuzung auch ein Pudel mitmischt, kann es kaum erwarten. Als er sein Herrchen erblickt, bellt er vor Freude und holt sich ein paar Streicheleinheiten und Leckerlis ab. Er schlängelt sich durch Mollenhauers Beine, als wären sie ein Slalom-Parcours. Ein kurzer Befehl – und der Hund macht Platz und wartet ruhig auf weitere Anweisungen. Nur sein Schwanz wedelt noch aufgeregt über den Boden wie ein Scheibenwischer bei Starkregen.
Erlebnistherapie spielt eine große Rolle
Keegan hat keinen Vollzeitjob, sondern wird nach Bedarf eingesetzt – ähnlich wie sein Herrchen. Der 66-jährige Alfred Mollenhauer ist eigentlich seit Anfang vorigen Jahres in Rente, aber er arbeitet in Teilzeit weiter. "Ich glaube, dass ich noch ein bisschen was bewegen kann. Außerdem muss ich mich langsam entwöhnen." Er ist jedoch kein Rosinenpicker, der nur ab und zu mal mit Hund über die Station spaziert. Lieber übernimmt er mal einen Nachtdienst, damit sein Team tagsüber Zeit hat für Erlebnistherapie.
Da wäre zum Beispiel das Klettern. Auch das, wie der Hund, eine Therapieform, die Mollenhauer hier etabliert hat. Vor 15 Jahren, er kam gerade von einem Kletterurlaub mit seinem Sohn zurück, schlug er im Spaß vor, auch mal Patientinnen und Patienten mitzunehmen. Die Idee sollte er ernsthaft verfolgen, sagten seine Vorgesetzten: Konzept erstellen, Ausbildung zum Klettertherapeuten absolvieren, die Rechtsabteilung der Klinik ins Boot holen … Mittlerweile war er mit mehr als 7000 Menschen aus der Psychiatrie klettern. Verletzungen: null. Das betont er besonders, weil er auch starken Gegenwind zu spüren bekam: "Egal ob Kletterausflüge oder der Hund, es gab immer welche, die mir sagten, du spinnst." Aber wichtiger als die Meinung von Fremden ist ihm der Zusammenhalt im Team und die Rückendeckung der Chefs. "Die Psychiatrie ist eine künstliche Welt, in der sich die Patienten mehr und mehr vom normalen Leben entfernen. Dem wollen wir entgegenwirken, indem wir auch mit ihnen rausgehen."
Im Aufenthaltsraum des Pflegepersonals hat Keegan inzwischen das ganze Team begrüßt. Dabei läuft er gemächlich von einer Kollegin zum nächsten Kollegen und bleibt jedes Mal kurz stehen für einen "Schön, dass du da bist"-Krauler. Zwei Jahre dauerte die Ausbildung für die tiergestützte Therapie, für die Keegan und Mollenhauer an den Wochenenden die Schulbank drücken mussten – Hausaufgaben inklusive. Keegan lernte wichtige Fähigkeiten für die Arbeit mit psychisch kranken Menschen: in stressigen Situationen Ruhe zu bewahren, sich nicht von lauten Geräuschen erschrecken zu lassen, Fremde nicht ungefragt anzubellen und anzuspringen. Kostenpunkt: etwa 3500 Euro. Die hat Mollenhauer aus eigener Tasche gezahlt. Nicht jede Rasse ist für die tiergestützte Therapie geeignet, Labradoodles schon. Sie gelten als gelassen und freundlich, sanft und intelligent. Genau so kann man Keegan beschreiben. Außerdem scheint er den richtigen Riecher dafür zu haben, was sein Gegenüber gerade braucht, quasi ein Spürhund für Stimmungen. "Ich glaube, er kann die Befindlichkeiten von Menschen erschnuppern und dadurch besser auf sie eingehen", sagt Mollenhauer, der Keegan gerade anleint. Macht er immer so, wenn er mit ihm über die Station läuft, schließlich soll sich niemand unwohl fühlen oder Angst haben.
Keegan hat ein gutes Pfötchen dafür, wie man auf Menschen zugeht
Seit 1990 arbeitet Alfred Mollenhauer hier – so lange, dass ihm zu jedem Winkel der Station eine Geschichte einfällt. Etwa über die bunten Holzbretter, die wie Gemälde an der Wand hängen. Ein Patient hatte das Sicherheitsglas einer Tür eingetreten, ein Schreiner deckte die Stelle provisorisch mit dem Holz ab, Patientinnen bemalten es. Oder über die Ecke vor dem Raucherbalkon, wo in der Weihnachtszeit ein Baum steht. Ein Patient, der unter Wahnvorstellungen litt, habe den Baum nach ihm geworfen, als er mit Keegan über den Flur lief. "Der Hund konnte die Situation nicht einschätzen, hat mich fokussiert. Ich habe ihn in den Aufenthaltsraum gebracht, um mich mit Kollegen um den Patienten zu kümmern."
Alfred Mollenhauer klopft an eine Zimmertür. "Ja?", sagt eine zarte, zerbrechlich klingende Stimme. Er lässt die Leine los. Vorsichtig tapst Keegan hinein und direkt auf Meike zu. Sie sitzt auf der Bettkante, der Hund nimmt zu ihren Füßen Platz. Er hat ein gutes Pfötchen dafür, wie man behutsam auf Menschen zugeht. Sie klopft auf ihr Bett, wie beim Kinderspiel "Mein rechter, rechter Platz ist frei". Keegan springt hinauf, dann gibt es kein Halten mehr. Meike nimmt sein Gesicht zwischen ihre Hände und krault es, dann umarmt sie ihn und lacht. Wenige Minuten später legt Keegan seinen wuscheligen Kopf auf ihren Schoß, plötzlich sieht er unendlich traurig aus. Mollenhauer erklärt das so: "Keegan will dir damit zeigen, dass er weiß, wie du dich fühlst." Meike nickt. Ihre Diagnose, die sie selbst ganz offen anspricht: Borderline-Persönlichkeitsstörung und selbstverletzendes Verhalten, ausgelöst durch ein Trauma.
Irgendetwas scheint der Hund bei der 23-Jährigen anzustupsen, denn plötzlich erzählt sie einfach so etwas mehr über sich. Dass sie lange eine Reitbeteiligung hatte. "Die Zeit mit dem Pferd hat mir immer Kraft gegeben." Dass sie in ihrer Kindheit selbst einen Hund hatte. "Der hat auch gespürt, wenn es mir nicht gut ging, und kam dann zum Kuscheln zu mir." Dass sie sich vorstellen kann, ehrenamtlich im Tierheim zu helfen. "Vielleicht kann ich mit den Hunden Gassi gehen, damit sie nicht den ganzen Tag eingesperrt sind." Mollenhauer hört zu, dann sagt er ihr: "Das ist das Schöne an Keegan. Durch ihn hast du Vertrauen gewonnen, dich geöffnet. Ohne ihn hätte ich all das über dich vermutlich nie erfahren." Nach 25 Minuten endet der Einsatz. Auf der Station wird es gerade hektisch: Rettungsdienst, neuer Patient.
Alle lieben Keegan
Draußen vor der Uniklinik bekommt der Therapiehund Leckerlis und Lob – sein Lohn. Ein Junge und zwei Mädchen aus der Jugendpsychiatrie schlendern über die kleine Grünfläche. Als sie Keegan entdecken, rufen sie wie einstudiert: "Oh, ist der süß!" Alfred Mollenhauer winkt die Jugendlichen heran: "Kommt her, ihr könnt ihn ruhig streicheln." Das eine Mädchen strahlt übers ganze Gesicht, krault den Hund und sagt: "Den kenn ich, das ist Keegan. Sie haben mich mal mit ihm besucht." Die anderen beiden kannten ihn noch nicht. Aber keine zehn Sekunden später kniet der Junge auf dem Boden und lehnt seinen Kopf an den Rücken des Hundes. Sieht so aus, als müsste Keegan heute Überstunden machen.
Marlene Kohring durfte auch mal mit Keegan kuscheln – und fühlte sich danach hundherum glücklich.