Ich hatte mal eine Freundin, die sich für die personifizierte Wahrheit hielt. Sie sagte, was sie dachte, sie dachte, was sie wollte und es war ihr reichlich egal, was diese selbst erdachte und laut ausgesprochene "Wahrheit" manchmal anrichtete. Ihr konsequentes Verweigern von Unehrlichkeit verstehe ich dabei gerade noch so, aber ihr Hang, völlig ungefragt ihre unnette Meinung in den Raum zu schleudern, machte sie für ihr Umfeld ungefähr so sympathisch wie eine Kreuzung aus Dieter Bohlen und Donald Trump. Ja, die Wahrheit kann manchmal brutal sein. Und nein, man muss sie nicht immer laut äußern.
"Ich will doch bloß ehrlich sein"
Ihre von ihr selbst hochgelobte Wahrheitsliebe führte nämlich zu Komplimenten wie "Uh, deine Arme würde ich lieber bedecken, die schwabbeln ganz schön" oder Statements wie "Also deinen Flirtversuch fand Basti gestern ganz schön deplaziert." Über Bastis Desinteresse und meine wabbelnden Arme (vielleicht existiert ein Zusammenhang?) informierte diese Freundin mich selbstverständlich ungefragt. Das musste sie ja auch. Schließlich wollte sie ja nur ehrlich sein. So sagte sie das. Und ich habe wirklich lange gebraucht für die Einsicht, dass diese Frau eins nicht verstand: Die Wahrheit ist manchmal ein Arschloch. Und sie nicht auszusprechen, ist manchmal viel tugendhafter, als es zu tun.
Deine Wahrheit ist nicht meine Wahrheit
Es ist ja nun mal so: Die EINE Wahrheit existiert ja gar nicht. Na gut, wenn es in Hamburg regnet, dann regnet es in Hamburg. Ist wahr und wenig diskutabel. Und wenn irgendjemand darüber sprechen möchte: nur zu. Ob aber meine Arme zu wabbelig sind oder was Bastis hochgezogene Augenbraue zu bedeuten hatte, das ist eindeutig uneindeutig. Menschen, die in solchen Situationen ihr eigenes Denken als "Wahrheit" deklarieren und sich verpflichtet fühlen, diese in die Welt zu posaunen, verstehen eine wichtige Sache nicht: Die Welt ist viel komplexer, als ein einzelner Mensch es je begreifen würde. Jeder hört vor dem Hintergrund abertausender Erfahrungen. Niemand nimmt die Umwelt wahr wie der andere. Und manche finden, dass meine Arme genau richtig sind. Das glaub ich jetzt zumindest einfach mal. Vielleicht Basti. Aber wer weiß das schon so genau außer Basti? Ja, die Wahrheit, die Wahrheit, manchmal will ich sie gar nicht kennen.
Lügen sind der Kitt, der uns zusammenhält
Ich möchte es hier und heute zugeben: Ich lüge. Ich sage meinen Kindern, dass sie schön gemalt haben, auch wenn das offensichtlich nicht der Fall ist. Ich lobe Kleider, die ich niemals anziehen würde und erfinde manchmal Ausreden, um Menschen nicht wehzutun. Warum ich das mache? Weil es meine Wahrheit ist, dass es wichtigere Dinge gibt als gnadenlose Ehrlichkeit. Ich will, dass meine Kinder stolz sein dürfen und nicht an sich zweifeln. ich will, dass meine Freundin sich sexy findet, wenn wir nachher auf die Party gehen, auf der ihr Ex sein wird, und ich möchte nicht, dass meine Oma weiß, wie wenig Bock ich heute habe, mir zum hundertachtzigsten Mal die gleiche Geschichte über die schwere Geburt meines Vaters anzuhören. Mag sein, dass das ein bisschen verwerflich ist. Und manche nennen das Lüge. Ich nenne es Liebe. Denn die kennt nur eine Wahrheit: Ich will Dir Gutes. Und ehrlich ist eben NICHT immer gut.