"Für viele Menschen ist eine Entschuldigung nichts weiter als eine Höflichkeitsfloskel oder ein antrainierter Impuls bei verbalen oder physischen Zusammenstößen", erklärt Nazim Bayram, der Mitarbeiter bei Airbus als Life Coach unterstützt. "Das Problem ist nur, dass andere Menschen diese Floskel oft nicht als solche erkennen und unbewusst annehmen, sein Gegenüber habe tatsächlich Schuld auf sich geladen. Das kann irgendwann dazu führen, dass der Dauer-Entschuldiger negativ wahrgenommen wird oder unterwürfig wirkt." Betroffen seien vor allem Frauen, sagt Nazim Bayram, weile diese eher dazu tendierten, Harmonie stiften zu wollen. Gerade im Job sei Harmoniesucht aber oft hinderlich. Deshalb empfiehlt er Gewohnheits-Entschuldigern: "Einfach mal versuchen, Alternativen zu finden und dem Impuls die Stirn bieten." Unsere Autorin hat genau das einen Tag lang versucht. Einfach war es nicht ...
06.00 Uhr
RIIING!!!! Ich taste nach dem Wecker und finde die Schulter meines Mannes. Sorry... äh nee, ich meine, äh ... . Shit, das fängt ja gut an. Ich bin nervös. Wahrscheinlich wie ein Raucher kurz vor seiner ersten Entwöhnungshypnose. Ich habe Angst vor den Entzugserscheinungen. Bin mir ziemlich sicher, dass ich sie haben werde. Einen ganzen Tag will ich es schaffen, kein einziges "Sorry", „Tut mir leid“ oder „Entschuldigung“ in den Mund zu nehmen. Komme, was wolle! Ich weiß auch nicht, warum ich ausgerechnet diesen Artikel schreiben wollte. Bin sonst nicht so ambitioniert, was Selbstoptimierung angeht. Egal, raus jetzt aus den Federn.
07.00 Uhr
Ich bin gut. Habe mich schon eine Stunde lang ohne Entschuldigung durchs Leben geschlagen. Könnte daran liegen, dass ich niemanden gesehen habe. So what. Ich find mich super!
07.03 Uhr
Steige in die Bahn und werde angerempelt, Kaffee schwappt über meinen Arm. Ich beiße mir auf die Zunge. Der Typ, der mich angerempelt hat, schaut mich finster an. Ob ich mich gestern bei ihm dafür entschuldigt hätte, dass er mir Kaffee übergeschüttet hat? Der Impuls war da. Einfach nur, weil er denken könnte, dass ich es war und nicht er. Erschreckend!
09.30 Uhr
Härtetest an der Kaffeemaschine im Büro. Die Milch am Milchschäumer ist leer und der Milchdampf verteilt sich in kleinen Milchpünktchen auf dem frisch gepuderten Gesicht meiner Kollegin. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Mein Körper zittert. Ich schätze, ich hab Kammerflimmern. Muss hier weg. Sofort. Mir war nie klar, wie oft Kaffee mich zum Entschuldigen verführt. Kaffee ist böse. Kaffee ist heute mein Feind.
11.47 Uhr
Rufe heute zum dritten Mal die Servicenummer an, weil der Server spinnt. Ist nicht mein Fehler, aber alles in mir schreit danach, mich dafür zu entschuldigen. Ich versuche es mit Selbstbetrug. Entschuldige mich einfach mental und hoffe, dass das Universum meine Nachricht dem Servicemann übermittelt.
14.33 Uhr
Mein Kiefer tut weh. Mein Nacken schmerzt. Die Schläfen pochen. Mir wird klar: Entschuldigungen entspannen mich. Darum also tue ich es so oft. Ich verkrümel mich auf die Damentoilette und entschuldige mich bei meinem Spiegelbild dafür, dass ich mich freiwillig für den Artikel gemeldet habe. Puh. Jetzt geht´s mir besser.
16.32 Uhr
Wieder in der Bahn. Ich achte darauf, viel Freiraum um mich herum zu haben, damit mich auch ja keiner anrempelt, bei dem ich mich dann entschuldigen möchte. Gucke auf mein Handy. Sechs Anrufe in Abwesenheit. Vor lauter Aufregung habe ich vergessen, dass ich heute mit einer Freundin verabredet war. Oha, das wird tricky! Das schlechte Gewissen überkommt mich in Form von wellenartigen Hitzeschüben. Raus aus der Bahn, zurück in die Innenstadt. Sie schreibt: "Sitze schon mal im Café". Oh nein, Kaffee trinken? Ernsthaft? Bitte nicht auch noch das! Ich muss es einfach schaffen, ich muss.
16.41 Uhr
Bin da. Meine Freundin ist genervt. Zu Recht, finde ich und will wirklich nur eins: Mich aufrichtig entschuldigen. „Du bist 40 Minuten zu spät. Ich hab extra früher Feierabend gemacht“, sagt sie. Ich konzentriere mich. „Na, ist doch schön! Hatteste mal wieder Zeit für Dich.“ Sie guckt mich verstört an. An Entschuldigungsalternativen arbeite ich wohl besser nochmal.
21.00 Uhr
Ich liege platt wie ne Flunder auf dem Sofa. Bin völlig fertig. „Deine Mutter hat schon vier Mal hier angerufen, um sich dafür zu entschuldigen, dass sie gestern nicht mehr zurückgerufen hat.“ Ich hechte zum Telefon und wähle ihre Nummer. Labe mich an ihren Ausführungen. Wälze mich wohlig in ihren Entschuldigungen wie in einem Federbett voller Kissen. Atme den Duft ihrer Erklärungen ein wie ein frischgebackener Nichtraucher den kalten Qualm in der Raucherecke. Dann lege ich mich ins Bett und fühle mich gut. Ich weiß, ich kann es schaffen. Morgen halte ich auch noch durch.
10.15 Uhr , nächster Tag
Mein Artikel ist fertig und ich glaube, ich habe was fürs Leben gelernt. Ich bin mir sicher, ich brauche das nicht mehr. Ich schreibe eine kurze Mail an meine Chefin:
„Liebe Barbara,
anbei mein Text. Hat mir auch persönlich geholfen! Entschuldige bitte, dass er jetzt doch etwas zu lang geworden ist."