TAG 1: Dieser Anzug ist ein Glücksversprechen. Dunkelblau liegt er vor mir, schwerer Stoff, schwarze Knöpfe, zweireihig, weit geschnitten. Nichts anderes werde ich die nächsten Wochen tragen. Eine Uniform, die alle meine modischen Probleme löst, weil mich die Frage, was ich morgens anziehe, zunehmend nervt.
Mein Kleiderschrank wird immer voller, meine Ratlosigkeit immer größer, Trends tauchen auf und verschwinden schneller, als ich auch nur gucken kann, schon das Wort „Styling“ überfordert mich. Und: Jeder Kauf eines Kleidungsstücks, das ich eigentlich nicht brauche und doch so gern besitzen würde, wird zu einer Doktorarbeit.
Früher kaufte man eine Jeans. Heute muss man sich zwischen Mom-Jeans, Boyfriend-Jeans, Skinny Jeans und HighWaist-Jeans entscheiden, zwischen Fast Fashion und Fair Trade, zwischen Waschungen und Weltanschauungen. Ich bin es leid. Entweder wird mich dieser Anzug von meinem Luxus-Dilemma erlösen – oder aber zum textilen Fluch, den ich ertragen muss. Man wird sehen.
Der Anzug als Equalizer
Dabei handelt es sich nicht um eine x-beliebige Klamotte, die da vor mir im Karton liegt, sondern um eine für alle. Ein Anzug für Frauen und Männer, für Menschen jeden Alters und jeder Nation, das demokratisierendste Kleidungsstück, was man sich denken kann, genderneutral und egalisierend.
„Poor Man’s Suit“ heißt der Zweiteiler des niederländischen Labels Bonne Suits, der Anzug des armen Mannes. Bonne Suits wurde vor drei Jahren von Bonne Reijn gegründet, damals war er 24 und Stylist. Sein Anzug richtet sich gegen Geschlechtergrenzen, Eliten und Distinktion. Finde ich gut, denke ich, und ziehe mir die Hose über den Hintern. Passt.
Bonne Reijn äußerte, dass der Anzug ein „Equalizer“, ein Gleichmacher, sei – und dass er davon träume, dass irgendwann alle Menschen seine Anzüge trügen. Ich habe ihn online bestellt, 225 Euro hat er gekostet. Nicht viel für 20 Jahre. So lange sollen die Anzüge halten. Wenn das nicht nachhaltig ist, weiß ich auch nicht. Ich werfe mir die Jacke über, gehe zum Spiegel. Sieht irgendwie souverän aus, mein neuer Dauerbegleiter. Ich bin entzückt.
Kleidung berührt
TAG 4: Ich bin nicht mehr ganz so entzückt. Ja, er ist praktisch, man stopft sich Portemonnaie, Telefon und Schlüssel in die weiten Taschen – aber ich stehe vor meinem Schrank und lasse meine Hand über die schwarze Seidenhose gleiten, die ich neulich im Sale geschossen habe. Sie ist leicht, dezent und geschmeidig, perfekt für meinen Bank-Termin nachher. Tja.
Stattdessen steige ich wieder in das unförmige Monster. Da sieht man wieder: Kleidung berührt. Nicht nur im übertragenen Sinn, weil sie uns anspricht und wir durch sie etwas aussagen, weil sie unsere Persönlichkeit unterstreichen soll, sondern ganz buchstäblich – sie berührt die Haut.
Heute wäre ein Tag, an dem mich ein Stoff teuer umschmeicheln sollte, anstatt wie ein Stück kommunistischer Pappe von mir abzustehen. Wie kam ich nur auf die Idee, mich durch ein politisches Kleidungsstück der Mode-Diktatur entziehen zu können?
Dieser Anzug ist wie beredtes Schweigen, natürlich sagt er etwas aus. Er sieht aus wie ein Mao-Anzug. Den hat Mao übrigens nicht erfunden, wie ich lese, das war Sun Yat-sen. Damals wollte man das chinesische Volk vor fremden kulturellen Einflüssen abschirmen.
Bin ich ein Trendsetter? Na ja, geht so.
Jedes Kleidungsstück hat seine Geschichte – und seine moderne Aussage. Dieser Anzug ruft „Oversize“ und „Men’s Style“ und verschweigt dafür lautstark Feminines und Weiches. Immerhin kaufte ich ihn in hanseatischem Dunkelblau und nicht in Mohnrot oder aus Samt. Gibt es auch. Dann hätte ich den Termin bei der Bank auf unbestimmte Zeit verschoben. Als ich den netten Herrn Schreyer in der Bank später frage, wie er den Anzug findet, sagt er nur: „Steht Ihnen, Frau Brauer.“ Was soll der Mann auch sonst sagen.
TAG 10: Mode, lerne ich (erstaunlich, wie viel Zeit man hat, wenn man nicht ständig online nach der perfekten Hose sucht), ist ein soziales Zeichensystem, das Identität formt, Zugehörigkeit stiftet und Abgrenzung definiert. Stimmt.
Wenn ich ehrlich bin, möchte ich durch meine Kleidung als urban und jugendlich wahrgenommen werden. Wobei, wer nicht? In dem Anzug sehe ich definitiv wie eine Großstadtpflanze aus, jugendlich weniger.
Nachmittags stolpere ich über den deutschen Philosophen und Soziologen Georg Simmel, er schreibt: „Der häufige Wechsel der Mode ist eine ungeheure Knechtung des Individuums.“ Sieh an. Offenbar ist das Thema Fast Fashion doch nicht so neu.
Simmel schrieb schon 1911 über Modeverweigerer! Genau das ist wieder angesagt: Steve Jobs trug nur einen Rolli, Obama nur einen Anzug, Mark Zuckerberg ein graues T-Shirt. Und was passierte? Alle kauften das Zeug nach. Bin ich ein Trendsetter? Na ja, geht so. Zumindest glaube ich nicht, dass sich dieser Minimalismus je im weiblichen Modeverständnis durchsetzen wird.
TAG 21: Ich habe ein paar Dinge gelernt. Erstens merkt keine Sau, was man wie oft trägt. Abgesehen von meinem reizenden Mann, der mein tägliches Dunkelblau und mein gelegentliches Jammern erträgt, fällt es niemandem auf. Nicht meiner Mutter, mit der ich nach Dänemark fahre, nicht meiner Lieblingsverkäuferin auf dem Markt, bei der ich seit Jahren Salat und Tomaten kaufe.
Meine Mutter findet die Jacke prima, weil sie just so etwas Ähnliches sucht, die Marktfrau fragt nur erstaunt: „Ach, den hast du immer an?“ Danach mustert sie mich von oben bis unten. Wahrscheinlich das erste Mal, sie merkt sich Gesichter und nicht Garderoben. So viel zum Thema, dass die Kleidung uns individueller oder einzigartiger machen soll.
Zweitens habe ich gelernt, dass man sich sehr schnell daran gewöhnt, nicht mehr über Kleidung nachzudenken und jeden Tag dasselbe anzuziehen. Ich wasche ihn abends, morgens steige ich wieder hinein, weißes T-Shirt, Schuhe, fertig.
Und es gibt auch kein Teil in meiner Garderobe, das ich von ganzem Herzen vermisse. Gut, könnte daran liegen, dass ich im Normalfall eine meiner unzähligen schwarzen Hosen mit einem meiner unzähligen schwarzen Oberteile kombinieren würde, weil mir mal wieder nichts Besseres einfällt.
Keinen blassen Schimmer mehr
TAG 28: Ich bin erlöst. In diesem Moment, in dem ich diesen Satz schreibe, wird mir klar, dass ich morgen wieder etwas anderes anziehen könnte, weil das Experiment beendet ist. Wenn mir danach wäre. Das Problem: Ich habe keinen blassen Schimmer, was.
Ich werde den Anzug heute Abend in die Waschmaschine schmeißen und morgen früh unentschlossen vor meinem Schrank stehen. In dieser Sekunde weiß ich, dass ich den „Poor Man’s Suit“ morgen wieder tragen werde.
Vielleicht aus Fantasielosigkeit, aus Überforderung, die aus dem Überfluss entsteht – vielleicht aber auch, weil der Anzug schlicht ein gutes Kleidungsstück ist. Eins, das ich aus Überzeugung für mich auswählte.
Klammheimlich freue ich mich darüber und streiche mit der Hand über die dunkelblaue Baumwolle. Ein richtig guter Kauf war das. Hat man ja nicht so oft.