Veerle, 12 und 13
Wenn ich morgens im Halbschlaf aus meinem Zimmer zum Kaffeekochen Richtung Küche gehe, erschrecke ich immer noch: Auf dem Flur steht ein Riesenkerl, wo ich höchstens meinen Sohn erwarten würde. In meiner Erinnerung war er vorgestern noch kleiner als ich, hatte weiche Pfirsichwangen und große blaue Augen, die zu mir aufschauten, statt auf mich herab. "Moin!" Aus seinem mobilen Lautsprecher, den er permanent mit sich herumschleppt, pöbelt düster irgendein Rapper.
Sind so große Hände! Mein Jüngster ist jetzt 19 und hat sich zu 1,95 Metern ausgewachsen; ganz groß ist er trotzdem noch nicht. Wenn er mit seinen mächtigen Flügeln schlägt und den richtigen Absprungplatz in sein eigenes Leben sucht, ist es oft anstrengend. Wenn er mich übermütig in einer Mischung aus Liebe und Kräftemessen anspringt, weiß ich, wie sich ein Grizzlydompteur fühlen muss. Der Junge weiß gar nicht, wie stark er ist und was und wen er dabei alles kaputt machen könnte. Oder was er damit im Haushalt alles tun könnte, aber dafür fühlt er sich dann wieder zu klein.
Trotzdem ist es schön, ihn noch da zu haben. Meine Tochter lebt und studiert schon seit drei Jahren in Süddeutschland. Sie kann nicht einfach mal so zum Kochen und Quatschen rüberkommen. Zuhause findet jetzt in ihrer WG in der Fremde statt.
"Wo sind denn deine Kinder?" Mütter werden das ständig gefragt, wenn sie mal alleine angetroffen werden. Denn lange Zeit hat Mom mindestens eines im Schlepptau. Mittlerweile fragt mich das niemand mehr – und wenn, dann heißt es: "Und was MACHEN deine Kinder?" Unterwegs sind meine Hände leer, meine Schritte schnell, die Zeit, die ich von A nach B brauche, ist berechenbar. Es gibt keine Spontanstopps bei jedem Marienkäfer, jedem bunten Blatt, jedem Hund, jeder Schaukel, jeder Baustelle mit Bagger. Es ist die große Freiheit mit einer kleinen Spur Traurigkeit. Manchmal fühle ich mich, als wäre mir der Herzensjob als Mutter gekündigt worden, weil das Projekt endgültig abgeschlossen ist. Ich hätte wissen müssen, dass es eine Anstellung auf Zeit war.
Es ist paradox: Indem ich in dem Job, meine Kinder zu schützen, zu füttern, zu fördern und sie zu selbstständigen Menschen zu erziehen nachweislich erfolgreich war, habe ich mir meinen Arbeitsplatz selber wegrationalisiert. Mich entbehrlich gemacht, beim Wecken und Waschen, beim Anziehen und Frühstück hinstellen. Bei den Hausaufgaben, beim Insbettbringen, beim Vorlesen und Basteln. Kochen, Trösten und Reden werden immer noch nachgefragt, aber überwiegend bin ich Mutter a.D. Ich trage meine Kinder nicht mehr auf meinem Arm, aber ich trage sie ständig in mir, geistig und emotional. Meine Mutter hatte ein Foto von meiner Schwester und eins von mir in ihrem Portemonnaie – ich trage 7000 Fotos meiner Kinder in meinem iPhone mit mir herum und denke nicht daran, diese in die Cloud auszuleeren. Zu groß meine Sorge, sie könnten entschwinden und einen Teil meiner Erinnerungen mitreißen.
Momentan macht mein Sohn ein Freiwilliges Ökologisches Jahr im Hamburger Schwanenwesen. Manchmal gehe ich heimlich zum Eppendorfer Mühlenteich und schaue aus der Ferne, wie er mit dem Boot lässig herumschippert und aussieht wie ein Erwachsener. Schwer nachzufühlen, dass er mal reiskorngroß in meinem Bauch gelebt haben soll. Ich bin schrecklich stolz auf ihn – und ein bisschen auf mich: Meine Kinder sind auch Teilantworten auf die ewige Frage, ob man eine gute Mutter war. Mittlerweile sorge ich mich nicht mehr um alles. Die Mental Load wird leichter. Meine Fürsorge beinhaltet nun hauptsächlich praktische Basics wie Wäschewaschen, Kühlschrankfüllen, Aufräumen und Meckern. Einerseits bin ich froh, nicht mehr andauernd bemuttern zu müssen. Keine Angst um sie zu haben, weil sie so klein, ahnungslos, verletzlich und mitschnackbar sind. Es ist ruhiger geworden, und ich auch. Andererseits vermisse ich die Tage, als mir die Kinder aus Kindergarten oder Schule entgegenflogen und strahlend in meine Arme rannten, als hätte ihr Liebesakku nur noch 1 Prozent und ich wäre die einzige Powerbank, die sie jetzt wieder aufladen kann. Sollte auch mein großer Kleiner ausziehen, wäre ich frei zu gehen, wohin ich will. Aber es würde mir schwerfallen, Hamburg zu verlassen. Diese Stadt ist mein Fotoalbum, hier ist alles voller Erinnerungen an mein Leben mit den Kindern: die Uniklinik, in der sie geboren wurden, die Eisdiele, zu der wir an Sommerabenden gelaufen sind, der Park, in dem sie Fahrradfahren gelernt und Rehe gefüttert haben, der Zoo, ihre Spielplätze, Kindergärten, Schulen... Ich gehe oder fahre daran vor-über und sehe aus dem Augenwinkel ihre kleinen Geister. Für mich werden sie immer dort hausen. Galaxien aus Lego und Playmobil, Puppenhäusern, Einkaufsläden, Kinderbüchern, Kassetten, DVDs, Wiegen und Wickeltische sind Welten von gestern.
Es war ein ausschleichender körperlicher Entzug: Erst waren sie in meinem Bauch, dann in meinen Armen, an meiner Brust, an meinen Händen, nun sind sie in meinem iPhone, in meinen Gedanken, in meinem Herzen. Wenn sie klein sind, kann man sich nicht vorstellen, dass sie je genug von einem kriegen können. Jetzt bin ich die Mutter, die auf WhatsApp Fotos schickt und fragt, wie es ihnen geht und dabei Angst hat, nervig zu sein. Ich will und werde nicht in meiner Bude hocken und darauf warten, dass mich meine Kinder mit Fotos und Nachrichten füttern, um Leben in mein Leben zu bringen. Ich habe sie dazu erzogen, hinauszuziehen und ihr Glück zu finden, sogar wenn dieses Glück nicht in meiner Nähe ist. Sie sind mein Lebenskunstwerk, das ich nun aus angemessener Entfernung, aber bisher ohne Entfremdung betrachten kann. Nur manchmal idealisiere ich frühere Zeiten, wo Großfamilien zusammen auf dem Bauernhof gearbeitet haben und die Kinder zwar keine lange Kindheit hatten, aber ihren Eltern dafür sehr lange im täglichen Miteinander erhalten blieben.
"Was bist du groß geworden!", ruft man reflexartig, wenn man Kinder wiedersieht – obwohl man weiß, wie bescheuert dieser Satz ist. Die lächeln dann gequält: Ja – was denn sonst? Was man aber damit eigentlich mit Schrecken sagen will ist: Was bin ich alt geworden! An nichts sieht man das Vergehen von Zeit und ja, auch von Jugend, nämlich der eigenen, deutlicher als am Aufwachsen von Kindern.
Mein Sohn und ich sind nach seinem Abitur zusammen umgezogen, in eine neue, kleinere Wohnung. Ich hatte für viel Geld rechtzeitig den LKW-Parkplatz vorm Haus absperren lassen. Um 7 Uhr klingelten die Umzugsleute, weil den klischeemäßig ein BMW-SUV blockierte. Hinter der Windschutzscheibe war ein Zettel: Bei Bedarf bei XY klingeln, Zwinkersmiley, und dann die Adresse ein paar Häuser weiter. Es war der heißeste Tag des Jahres. Ich rannte hin und klingelte empört Sturm. Irgendwann kam mürrisch ein verschlafener Managertyp die Treppen herab und war sauer. "Jetzt freuen Sie sich, dass ich Ihr Auto nicht habe abschleppen lassen und fahren zügig weg!", rief ich. Er stand immer noch stur da. Der Chef der Umzugsleute rief von Weitem: "Können wir hier mal weitermachen?" Das Alphamännchen wollte aber weiterdiskutieren. Es war klar, dass er Kritik und Widerrede nicht gewohnt war, erst recht nicht von einer wütenden, mittelalten Frau auf offener Straße.
Plötzlich fiel ein langer Schatten auf uns. Ein Riesenkerl baute sich hinter mir auf, stärkte mir den Rücken. Und brüllte: "Jetzt halt endlich die Klappe! Verpiss dich einfach und fahr deine Scheißkarre da weg!" Dem Typen blieb der Mund offen stehen. Er blickte zu dem jungen Mann auf, der mich und ihn testosteronsprühend überragte. Dann ging er einfach zu seiner Scheißkarre und fuhr weg. Ich überlegte, ob ich meinen Sohn wegen seiner Ausdrucksweise kritisieren sollte, fiel ihm dann aber einfach mutterstolz um den Hals. Plötzlich erkannte ich, dass alles gut war. Dass ich das schwere Versprechen, das ich meinen Neugeborenen innerlich gegeben hatte, sie vor jedem und allem zu beschützen, bis sie groß und stark wären, eingehalten hatte. Und dass der Kreislauf des Lebens nun andersherum lief: Mein großer Sohn beschützte mich.
"Danke!", sagte ich aus ganzem Herzen. Es war nicht allein an ihn gerichtet.