Julika Stich weiß genau, wie es ist, Angehörige zu pflegen: Sie hat sich selbst als Kind um ihre an MS erkrankte Mutter gekümmert. 2016 hat sie die Initiative junger Pflegender "Young helping hands" gegründet.
BRIGITTE: Eine Studie der Uni Witten-Herdecke hat 2018 ergeben, dass rund 480.000 Kinder und Jugendliche zwischen zehn und 19 Jahren eine*n Angehörigen pflegen. Und eine Studie des "Zentrums für Qualität und Pflege" (ZQP) belegt, dass 90 Prozent der pflegenden Kinder mehrmals in der Woche helfen müssen. Das sind alarmierende Zahlen.
Julika Stich: Ja. Runtergerechnet sind das ein bis zwei Kinder pro Schulklasse, die der an Depression erkrankten Mutter Medikamente geben, dem krebskranken Vater den Katheter wechseln oder den schwerbehinderten Bruder auf die Toilette begleiten müssen. Die Dunkelziffer ist viel höher. Das Problem ist, dass viele Kinder und Jugendliche sich selbst gar nicht in der Pflegerolle sehen. Sie denken, das sei ihre normale Aufgabe. Wir müssen ihnen zeigen, dass es eben nicht normal ist, dass sie so eine starke Belastung tragen müssen.
Sie selbst haben mit sieben Jahren angefangen, Ihre an Multipler Sklerose erkrankte Mutter zu pflegen. Wie war das für Sie?
Es fing mit vermeintlich kleinen Dingen an, wie aufzupassen, dass meine Mutter nicht stürzt, wenn sie von einem Rollstuhl in den anderen wechseln musste. Rückblickend war diese Verantwortung mit sieben Jahren natürlich viel zu groß.
Ich hatte als Kind mehr und mehr das Gefühl, erst meine Schule, dann meine Ausbildung nicht mehr zu schaffen. Ich war einfach durchgängig körperlich geschwächt und wahnsinnig müde.
Was fühlen Kinder, die pflegen, außerdem? Mehr als die Hälfte von ihnen macht sich laut der ZQP-Studie extreme Sorgen um ihre Angehörigen und fühlt sich verantwortlich.
Da ist große Unsicherheit; und zugleich der Druck, die Familie nicht im Stich lassen zu wollen. Sportkurse, Treffen mit Gleichaltrigen – normale Dinge eben, durch die sich Kinder weiterentwickeln, werden gestört oder rücken komplett in den Hintergrund. Wir reden hier ja nicht darüber, mal die Spülmaschine auszuräumen, sondern über Dinge, die ganz klar nicht in der Verantwortung eines Kindes liegen dürfen. Auch weil es gerade bei Sachen wie Intimpflege zu Langzeitfolgen kommen kann, denn solche einschneidenden Erlebnisse können die Sozial- und Beziehungskompetenz stören. Grundsätzlich entwickeln junge Pflegende oftmals starke Selbstzweifel und auch ein dauerhaftes Gefühl der Überforderung.
Gibt es Anlaufstellen, bei denen sich die Kinder Hilfe holen können?
Natürlich. Auch sehr gute, wie zum Beispiel das Online-Beratungsportal "pausentaste.de", bei dem Kinder psychologisch betreut werden. Pflegende Kinder können das enorme Ausmaß ihrer Tätigkeiten oft gar nicht richtig einordnen. Deshalb ist es umso wichtiger, das Bewusstsein dafür in Politik und Gesellschaft zu schärfen.
In der aktuellen Pflegedebatte sind pflegende Angehörige ja bereits Thema.
Das stimmt. Wenn es sich dabei aber um Kinder und Jugendliche handelt, müssen andere, viel individuellere und kindgerechte Ansätze her. Unsere Initiative "Young helping hands" hat sich im vergangenen Jahr mit einem offenen Brief an Bundesgesundheitsminister Jens Spahn gewandt, mit der Forderung nach mehr Beratungsstellen für die Betroffenen. Wir wünschen uns zudem Patenschaften für Kinder mit Pflegeverantwortung und spezielle Angebote zur Stressprävention und zum Ausgleich ihres Pflegealltags.
Hat das Ministerium reagiert?
Ja, unter anderem mit einem Verweis darauf, dass es gute Pflegekurse für Angehörige gäbe. Das war schon absurd: Kinder sollen doch nicht lernen, wie man besser pflegt – sondern komplett entlastet werden. Sie sollten niemals die Mängel im öffentlichen Pflegebereich auffangen müssen. Dieses Thema ist in Deutschland einfach noch völlig unbekannt. Wir haben hier ja noch nicht einmal einen richtigen Begriff für pflegende Minderjährige. In England zum Beispiel gilt man als "Young Carer" und trägt auch einen entsprechenden Ausweis mit sich, der Lehrer*innen und andere Mitmenschen auf die starke Zusatzbelastung hinweist.
Pflegen gleich viele Mädchen wie Jungen?
Nein, 65 Prozent aller jungen Pflegenden sind weiblich, auch weil man das als Mädchen "eben so macht". Auch deswegen gehört das Thema in die Öffentlichkeit – und in die aktuelle Feminismus-Bewegung.

Julika Stich, 38, ist gelernte Erzieherin und hat 2016 die Initiative junger Pflegender "Young helping hands" (younghelping-hands.de) gegründet. Sie hat 17 Jahre lang ihre an MS erkrankte Mutter gepflegt. Heute möchte sie das öffentliche Bewusstsein für das Thema vertiefen. Dafür arbeitet die Initiative mit dem Familienministerium zusammen, hält Vorträge und engagiert sich in Jugendprojekten.
Holt euch die BRIGITTE als Abo - mit vielen Vorteilen.Hier könnt ihr sie direkt bestellen.