Leonie spricht
Leonie musste "manchmal Wache stehen", während ihr Großvater ihre Zwillingsschwester missbrauchte. "Wenn meine Mutter kam, warnte ich ihn und er zog meine Schwester und sich an." Leonie war sechs Jahre alt, als der Großvater seine Übergriffe an beiden Mädchen begann.
Die Mutter glaubte ihrer inzwischen neunjährigen Tochter, weil sie selbst als Kind Opfer ihres Vaters geworden war. Damit endete der Missbrauch. Doch zwei Jahre später begann ihr Vater, sie zum Geschlechtsverkehr zu zwingen.
Stattdessen beschimpfte die Mutter sie: "Du machst die Familie kaputt!" Leonie blieb mit dem Gefühl zurück, die Täterin zu sein.
Meistens sind die Täter die eigenen Väter
Leonies Geschichte ist nur eine von mehr als 200, die die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs angehört und ausgewertet hat. Seit Anfang 2016 bietet das Gremium Betroffenen einen geschützten Raum, um ihre Geschichte zu erzählen. Jetzt hat die Kommission ihre bisherigen Erkenntnisse in einem Zwischenbericht veröffentlicht.
Bei rund 70 Prozent der Betroffenen, die sich an die Kommission gewandt haben, fand der Missbrauch innerhalb der Familie oder im nahen sozialen Umfeld statt. Nicht immer, aber in den überwiegenden Fällen waren die Väter die Täter.
Zweite bittere Erkenntnis: Obwohl die Kinder die sexuelle Gewalt oft mitten in der Familie erfuhren, bekamen sie oft keine Hilfe, weil Familienangehörige ihnen den Schutz verweigerten. Dabei fällt auch ein neues Licht auf die Rolle der Mütter.
Die Schuld der Mütter
Die Kommission kam zu dem Ergebnis, dass die Mütter zwar oft über den Missbrauch Bescheid wissen, aber trotzdem wegsehen. Manche beschimpfen ihr Kind sogar, wenn es sich ihnen anvertraut, anstatt es zu beschützen. Betroffene berichteten häufig, dass sie als "Nestbeschmutzer" betrachtet wurden, die die Familie zerstörten:
In den meisten Geschichten wird über Mütter berichtet, die den Missbrauch schweigend dulden. Andere werden als gewaltbereite Mütter oder auch (Mit-)Täterinnen beschrieben. Manche Betroffene gehen in ihren Erzählungen auch auf die Ohnmacht der Mutter in der Partnerschaft ein.
Die Kinder bleiben mit dem Horror allein
Fast alle Opfer sexuellen Missbrauchs berichten, dass ihnen nicht geglaubt wurde – obwohl sie sich anvertrauten oder überzeugt waren, dass Erwachsene genügend Hinweise auf den Missbrauch hatten. Oft wurde nicht hingesehen und die sexuelle Gewalt deshalb nicht beendet.
Ein anderer Teil der Betroffenen hatte das Gefühl, dass ihnen zwar geglaubt wurde, dies jedoch keine Konsequenzen hatte. Weder wurde die sexuelle Gewalt beendet, noch wurde der Täter zur Verantwortung gezogen. Fast nie wurde die Schuld des Täters oder der Täterin klar benannt. Eine Betroffene fasst die ultimative Verlassenheit der Kinder so zusammen:
Der Zwischenbericht zeigt auf erschütternde Weise: Wir alle sind dringend gefordert, hinzusehen, das Schweigen zu brechen und betroffenen Kindern Hilfe und Schutz zukommen zu lassen.