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Mein Kind, das Gespenst

Mein Kind, das Gespenst
© katielittle/shutterstock
Die Tochter der Bloggerin Mareice Kaiser ist das Kind, vor dem sich alle werdenden Eltern fürchten. Denn sie ist behindert. Hier erklärt ihre Mutter, warum man sich trotzdem nicht fürchten muss.

Meine große Tochter ist das Kind, vor dem sich alle werdenden Eltern fürchten. Sie ist das Kind, wegen dem pränatale Untersuchungsmethoden entwickelt wurden. Sie ist das Kind, für – nein, gegen – das es Schwangerschaftsabbrüche gibt. Die Vorstellung, ein Kind wie sie zu bekommen, spukt zwischen den Zeilen und Kreuzen des Mutterpasses umher, oft auch in den Gedanken der werdenden Eltern. Bis die Hebamme nach der Geburt des Kindes sagt: "Alles gut, das Kind ist gesund".

Nach der Geburt meines ersten Kindes war nicht "alles gut". Meine behinderte Tochter ist ein Gespenst.

Ich hatte mir nicht explizit eine behinderte Tochter gewünscht. Mein Leben empfand ich schon so als kompliziert genug. Ich hätte es mir gut und gerne ohne zusätzliche bürokratische Barrieren, Wochen in Krankenhäusern und Pflegepersonal in meinen eigenen vier Wänden vorstellen können. Mittlerweile – sie ist nun fast vier Jahre alt – habe ich mich an das Gespenst in meinem Leben gewöhnt und finde es gar nicht mehr gruselig. Im Gegenteil.

Freundinnen fragen sich, ob ihnen das auch passieren kann

Wenn ich zusammen mit ihr anderen Menschen begegne, bekomme ich allerdings immer wieder zu spüren, welche Spukgewalt ihre bloße Existenz hat. Ehemalige Freundinnen, die sich jahrelang nicht bei mir gemeldet haben, schreiben mir und ich frage mich: Warum? Bis sie mir erzählen, dass sie schwanger sind und mich explizit auf die Schwangerschaft mit meinem Gespensterkind befragen. Ich spüre die unausgesprochenen Fragen: "Wusstet ihr das vorher?", "Hast du etwas geahnt?" und die allerwichtigste, niemals mir gegenüber ausgesprochene "Könnte mir das auch passieren?".

Dann gibt es Menschen, die mich aus einem Kontext ohne meine Tochter kennen, zum Beispiel aus dem Büro. Sie hören mich am Telefon mit der Krankenkasse kämpfen, den Pflegedienst organiseren und mit der Integrationserzieherin meiner Tochter Absprachen treffen. Sie fragen mich, wie es ihr geht, wenn wir gerade eine Woche mit ihr im Krankenhaus sein mussten. Je mehr ich erzähle, desto größer wird die Angst vor meinem Gespensterkind.

Nur was wir nicht kennen, macht uns Angst

Bis ich sie dann eines Tages mal mitbringe ins Büro und klar wird, dass sie in erster Linie ein Kind ist. Eines, das man gern anschaut, mit dem Kommunikation – wenn man sich auf sie einlässt – anders aber möglich ist und in dessen Gesellschaft sich die meisten Menschen, die ich kenne, wohl fühlen.

Auch ich hatte Angst vor dem Leben mit einem Gespenst. Was wir nicht kennen, macht uns Angst. Ich hatte bis zur Geburt meiner Tochter keinen engen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen. Auch ich war unsicher im Umgang mit behinderten Menschen und bin es manchmal noch. Allerdings weiß ich heute: Gespenster machen immer nur Angst, bis man sie trifft.

Text von Mareice Kaiser, zuerst erschienen bei umstandslos. magazin für feministische mutterschaft.

Nachtrag

Im Dezember 2015 ist die Tochter, über die Mareice Kaiser hier geschrieben hat, gestorben. Wir fühlen mit der Familie und wünschen ihr viel Kraft, um die schwere Zeit zu überstehen.

Autoren-Foto: Carolin Weinkopf

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