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Kindesmissbrauch Was müssen wir als Eltern darüber wissen?

Familienleben: Kind sitzt traurig auf Treppe
© Africa Studio / Shutterstock
Jeder von uns weiß, dass es Kindesmissbrauch gibt. Aber weil es so ein unvorstellbares Verbrechen ist, scheint es dennoch weit entfernt. Dabei gibt es, statistisch gesehen, in jeder Klasse oder jeder größeren Kindergartengruppe ein betroffenes Kind.

Bei jeder neuen Meldung über Kindsmissbrauch schießen Eltern die gleichen Fragen durch den Kopf: Könnte auch meinem Kind so etwas passieren? Soll ich es wirklich allein zur Schule gehen lassen? Wie kann ich es schützen? Was tue ich, wenn ich im Bekanntenkreis einen Verdacht hege? Heikle Fragen, für die es keine einfachen Antworten gibt, haben wir gedacht und deshalb mit Vera Falck gesprochen. Sie ist Geschäftsführerin des Hamburger Vereins Dunkelziffer e.V. und hat jeden Tag mit diesem Thema zu tun, denn Dunkelziffer e.V. berät und betreut Opfer und ihre Familien.

Welche Fälle sind bei Ihnen häufiger: Die, bei denen Fremde sich an Kindern vergehen oder Missbrauch in der Familie oder im Bekanntenkreis?

Falck: Wenn wir Rückmeldungen und Statistiken der Polizei, Juristen, Ärzten, Psychologen und weiteren Fachkräften, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, zugrunde legen, geht die Fachwelt davon aus, dass ca. 25 Prozent sogenannte Fremdtäter sind und ca. 75 Prozent der Täter und Täterinnen aus dem nahen sozialen Umfeld der betroffenen Kinder und Jugendlichen stammen. Bei Dunkelziffer e.V. können wir diese Prozentzahlen auch bestätigen.

Was heißt das konkret? In welchem Verhältnis stehen die Kinder zu den Menschen, die ihnen das antun?

75 Prozent der Täter und Täterinnen kommen aus dem nahen sozialen Umfeld der betroffenen Kinder und Jugendlichen. Das kann sowohl ein Onkel, der Lebensgefährte der Mutter, Sporttrainer als auch eine Kita-Erzieherin sein. Ausschlaggebend ist meist, dass das Kind Vertrauen hat zum Täter/zur Täterin oder sich auch in einem Abhängigkeitsverhältnis befindet, was es für das Kind so schwer macht, sich zu wehren oder Hilfe zu holen.

Gibt es sowas wie ein typisches Täterprofil? Wie hoch ist der Anteil von Frauen als Tätern?

Es gibt leider kein typisches, einheitliches Täterprofil. Aber gerade bei länger anhaltendem und mehrfachem sexuellen Missbrauch an Kindern agieren die Täter oft sehr manipulativ gegenüber der Umwelt. Das heißt: Sie können sehr angepasst und freundlich erscheinen und hohes Ansehen bei Kollegen, Verwandten und Freunden genießen. Das macht es für Kinder so schwer, Hilfe zu bekommen, weil ihnen unter Umständen keiner glaubt, wenn sie etwas sagen. Sie spüren instinktiv, dass es gerade die Beliebtheit ihres Peinigers bzw. ihrer Peinigerin schwer macht, Verbündete zu finden; außerdem verunsichert dessen Beliebtheit ihr eigenes Unrechtsbewusstsein. Es ist darum sehr wichtig, hinzuhören und hinzusehen und Kindern früh beizubringen, dass sie sich Hilfe holen dürfen. Eltern können ihren Kindern dabei Orientierungshilfe geben und ihnen vermitteln, dass sie z.B. nicht in fremde Autos einsteigen sollten und keine Geschenke/Süßigkeiten annehmen sollten. Aber wie gesagt: Meist kommen die Täter aus dem direktem Umfeld. Der Anteil weiblicher Täter wird auf 10-15 Prozent geschätzt. Wie man sich denken kann, ist das aber bisher ein sehr großes Tabuthema und darum auch Dunkelfeld, d.h. es bleibt meist unaufgedeckt.

Was raten Sie Menschen, die einen Verdacht hegen, sich aber scheuen, jemanden, den sie gut kennen, zu beschuldigen? 

Ich rate jedem, der einen solchen Verdacht hegt, sich zunächst bei einer Einrichtung wie Dunkelziffer beraten zu lassen. Das geht auch anonym oder per Mail. In spezialisierten Beratungsstellen können nächste Schritte besprochen sowie Handlungsmöglichkeiten erörtert werden. Es ist nicht ratsam, allein loszulaufen.

Was antworten Sie denen, die behaupten, Kinder erzählten ja viel, man solle nicht alles glauben?

Wichtig ist, mit den Kindern im Kontakt zu bleiben. Das heißt wortwörtlich zum einen, nicht aus Unsicherheit den Kontakt mit ihnen abzubrechen, aber es heißt auch, im Gespräch zu bleiben. Wenn sie etwas Unglaubliches erzählen, trotzdem nachfragen, wie sie das meinen. Das heißt nicht, dass man bei jeder Äußerung der Kinder sofort alles Mögliche in die Wege leiten muss. Aber hinhören und zuhören, was das Kind einem mitteilen möchte. Denn wir wissen von vielen Betroffenen, dass ein Kind, das sexuellen Missbrauch erlebt hat, sich teilweise an bis zu sieben Erwachsene wenden musste, bevor ihm geglaubt wurde!  Die Täter wollen natürlich immer, dass Kinder niemandem etwas erzählen und setzen sie massiv unter Druck. Das führt oft dazu, dass Kinder lange schweigen, aus Scham und aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird. Kindern sollte deshalb früh vermittelt werden, dass es auch Menschen gibt, die es nicht gut mit ihnen meinen und sie jederzeit darüber sprechen dürfen. 

Wie vermeidet man ungerechtfertigte Beschuldigungen?

Man sollte, wie gesagt, nicht allein losziehen und einen Fall lösen wollen. Holen Sie sich Rat bei einer Beratungsstelle, suchen Sie einen Austausch mit Kollegen und Vorgesetzten. Gehen Sie vor allem ruhig und schrittweise vor und bleiben Sie bei allem ergebnisoffen! Es kann sein, dass ein Kind Auffälligkeiten zeigt, der Sie an sexuellen Missbrauch denken lässt, aber vielleicht gibt es ganz andere belastende Umstände, die zu einem veränderten oder auffälligen Verhalten führen. Auch dann braucht das Kind passende Hilfe!

Wie erkenne ich Missbrauch bei Kindern, vielleicht sogar bei meinem eigenen Kind? Gibt es typische Verhaltensweisen?

Es gibt keine eindeutige "Symptomliste" für Missbrauch. Vielmehr ist es wichtig, darauf zu achten, ob es Ihrem oder dem Kind, das Sie im Auge haben, grundsätzlich gut geht oder eben nicht. Bleiben Sie mit dem Kind in Kontakt, lassen Sie ein Kind mit seinen Sorgen nicht allein bzw. achten Sie auf Verhaltensänderungen und sprechen Sie diese an. Mögliche Symptome können Schlafstörungen, Essstörungen, Konzentrationsstörungen, Ängste, Zwänge, distanzloses wie distanziertes Verhalten, Schuld- und Schamgefühle sein. Wichtig ist, dass Eltern die Veränderungen ihres Kindes oder eines Kindes, das ihnen nahesteht, wahrnehmen und mit ihm ein Gespräch suchen, um ihm zu zeigen, dass man da ist für dessen Sorgen und das Kind nicht allein dasteht. Häufig unterbleibt das aus Unsicherheit dem Thema gegenüber. Wichtig dabei ist, wie bereits erwähnt, ergebnisoffen zu bleiben, denn es kann vieles sein, was ein Kind gegebenenfalls belastet. In jedem Fall braucht es aber Hilfe, wenn es Verhaltensauffälligkeiten zeigt. Welcher Art die dann sein kann, dabei können wie gesagt Beratungsstellen helfen.

Woran liegt es, dass familiärer Missbrauch nach wie vor so selten aufgedeckt wird?

Erfahrungsgemäß ist es sehr schwer für Kinder, sich jemandem anzuvertrauen, da sie, gerade bei einem Missbrauch in der Familie, gar nicht wissen, was Normalität ist. Gerade bei lang anhaltendem Missbrauch durch eine Vertrauensperson kann es sein, dass den Kindern schon früh vom Täter/der Täterin eingeredet wurde, dass das etwas Normales ist, was ihnen geschieht. So haben Kinder manches Mal über lange Zeit gar keine Sprache für das, was ihnen geschieht und keinen Anhaltspunkt, sich Hilfe zu holen. Den Partnern oder Partnerinnen der Täter steht natürlich ebenfalls die Scham im Wege, falls sie etwas ahnen. Für die Kinder ist das fatal.

Warum spielt gerade Scham nach wie vor eine so große Rolle?

Leider gehört sexualisierte Gewalt auch heute noch immer zu den großen Randthemen unserer Gesellschaft, und man muss erst einmal die Sprachlosigkeit und die Scham überwinden, darüber zu sprechen, denn viele Opfer fühlen sich oftmals paradoxerweise mitschuldig an dem, was geschehen ist.  In jedem Fall sind sexueller Missbrauch und auch Sexualität nach wie vor ein schambesetztes Thema. Wichtig ist, dass Erwachsene ihre Scham in Bezug auf bestimmte Themen ablegen, auch in Bezug auf die sexuelle Entwicklung von Kindern. Wenn man Kindern deutlich macht, dass es eine normale sexuelle Entwicklung gibt (auch schon bei kleinen Kindern, die nichts mit Erwachsenensexualität zu tun hat) dann lernen Kinder, was richtig und gut ist. Sie erkennen sexuelle Grenzüberschreitungen selbst schneller und können vielleicht auch lernen, sie zu benennen. Hilfreich ist es, wenn Kinder einen gesunden, positiven und selbstbestimmten Umgang mit Sexualität von den Eltern lernen. So können sie sexualisierte Gewalt erkennen und sich schneller Hilfe holen.

Was halten Sie von Kursen, die in Schulen zum Thema angeboten werden?

Grundsätzlich ist zu sagen, dass Präventions- und Aufklärungsarbeit genau das richtige ist, um dem Thema zu begegnen, denn es stärkt die Kinder in ihrem Recht auf Selbstbehauptung. Deshalb sollte Präventionsarbeit Fortbildung, Unterstützung und Aufklärung für Kinder, aber auch für Eltern und Lehrkräfte beinhalten. Damit keine Ängste entstehen, sollten Kinder aber immer altersgerecht über sexuellen Missbrauch informiert werden, also je jünger, desto spielerischer. So können sie spielerisch zB. im Rollenspiel lernen, dass sie NEIN sagen dürfen, wenn sie etwas nicht mögen und dass sie Hilfe bekommen, wenn sie welche brauchen. Wichtig ist aber wie gesagt, dass eben nicht nur die Kinder angesprochen werden, sondern auch die für ihren Schutz verantwortlichen Erwachsenen.

Dieser Artikel ist ursprünglich auf Eltern.de erschienen.

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