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Frauen, die beim Radfahren Männer überholen

Warum ertragen Männer es nicht, wenn Frauen sie beim Radfahren überholen? Jeden Tag ist es das gleiche Spiel: Kurz nachdem BRIGITTE-Redakteurin Doris Ehrhardt ihr Überholmanöver beendet hat, zieht der Mann keuchend an ihr vorbei.
Frauen, die beim Radfahren Männer überholen
© Gerti G./photocase.com

Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... Kaum habe ich einen Mann auf dem Rad überholt, zähle ich die Sekunden. Hab ich mir in dieser Saison angewöhnt.

Mein täglicher Radweg zur Arbeit ist streckenweise mehr als 100 Meter überschaubar. Ich habe die Fahrer vor mir also ein Weilchen im Blick. Zum Beispiel den Mittfünfziger, dessen dünne Reifen im umgekehrten Verhältnis zu seinem Körperumfang stehen. Er trägt Wildleder-Slipper, grellgrüne Socken, relativ enge Jeans und ein in doppelter Hinsicht spannendes Hemd. Die ganze Zeit schon tritt er träge vor sich hin, so dass ich ihn locker überhole. Als ich vor ihm einschere, fällt ihm ein, dass er auf einem Rennrad sitzt. Er beschleunigt. Ich zähle... nach 17 Sekunden zieht er an mir vorbei.

Offenbar macht es Männer rasend, wenn sie von einer Frau überholt werden. Das Phänomen ist nicht neu, aber in dieser Saison sind Wieder-Überholer so präsent wie Singlespeed-Bikes. Sogar Männer, die derart langsam unterwegs sind, dass es verblüfft, wie sie überhaupt die Balance halten können, kommen nach einer Überholung auf Trab

Was denkt sich ein Mann dabei? Nichts, sagt mein Kumpel Alfonso, das sei wie ein Reflex, habe wohl mit dem Jagdinstinkt zu tun: "Mammut von links? Jetzt aber schnell!" Oder es hänge damit zusammen, dass der Mann an sich ein eingefleischter Kräftemesser ist: im Sandkasten, auf dem Schulhof, in der Firma - immer im Wettkampf, immer muss er sich abstrampeln, um vorn zu sein. Eventuell spiele auch das Revierverteidigungs-Gen eine Rolle, das verlangt: "Moooment! Vorn, das ist mein Platz!" Steinzeitliches Verhalten, das eigentlich als überholt gelten müsste.

Mir fällt auf, dass dies die erste Schönwetterradler-Saison ist, seit die Bestseller "Das Ende der Männer" und "Lean In. Frauen und der Wille zum Erfolg" erschienen sind. Und seit mit der Frauenquote Wahlkampf gemacht wird. Googelt man "Frauen auf der Überholspur", bekommt man mehr als 180.000 Treffer. In der Schulbildung und Politik, beim Führerschein- und Karriere-Machen, in der Zahl von Firmengründungen oder Autokäufen, sogar im Fußball - es wimmelt von "Frauen auf der Überholspur". Und dann befördern die sich auch noch auf dem Radweg!

Ist es nicht fast logisch, dass Männer, die dauernd hören, sie seien in einer Identitätskrise, erst von der Rolle und dann buchstäblich aus dem Tritt sind? Sind Männer inzwischen derart verunsichert, dass sie auf dem Rad nicht einmal ihr eigenes Tempo halten können?

Vielleicht ist es ganz anders, vielleicht interpretiert der Mann seinen Drahtesel als Hengst, holt den Cowboy aus sich raus und reitet das alte Spiel neu: Speed-Dating im Sattel. Hat er einen starken Sprint hingelegt, lässt er ihr an der Ampel den Vortritt, sprintet dann erneut. Und so fort. Eroberung im dritten Gang.

Ich spiele oft mit. Erstens kommen wir auf diese Weise beide schneller ans Ziel. Zweitens schenke ich ihm, wenn sich unsere Wege trennen, ein Erfolgserlebnis, und das ist auf dem Weg zur Arbeit gut fürs Betriebsklima, also letztlich gut für die Weltwirtschaft.

Text: Doris Ehrhardt BRIGITTE 18/2013

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