Selbst viele Erwachsene wissen nicht, was eine bipolare Störung ist. Naema Gabriel wurde schon früh damit konfrontiert, denn sie und ihre ältere Schwester wuchsen bei ihrer manisch-depressiven Mutter auf. Ihre Erfahrungen hat sie in dem Bilderbuch "Sinus" verarbeitet. Ein Gespräch über Spaghetti in der Badewanne und die Angst vorm Waisenhaus.
"Mama war traurig, weil die Liebe zwischen Mama und Papa aufgebraucht war. Und die Liebe zwischen Mama und Papa war aufgebraucht, weil Mama immer traurig war. Da haben sie ihren Tisch und ihr Bett zertrennt. Zuerst für ein Jahr und dann für immer. Franka und ich, wir sind untrennbar. Papa hat gesagt, ich will die Kinder bei mir haben. Mama hat gesagt: ich will lieber tot sein als von den Kindern getrennt. So lieb hat sie uns. Deswegen sind wir mit Mama, mit den Möbeln und den Schachteln bei Papa ausgezogen. Mamas Wohnung ist voll bis unter die Decke und viel zu klein für uns. Papas Wohnung ist leer und viel zu groß für uns. Heute ist das Jahr vorbei. Heute fängt für immer an." (Auszug aus Naema Gabriels Buch "Sinus")
Frau Gabriel, woran haben Sie gemerkt, dass Ihre Mutter anders ist?
Naema Gabriel: Einen Schlüsselmoment gab es an meinem sechsten Geburtstag. Ich wusste von anderen Kindergeburtstagen, dass Mütter sich normalerweise im Hintergrund halten, Spiele vorschlagen, Würstchen und Kuchen reichen. Meine Mutter hat wie ein Partylöwe alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, war in ihrer Euphorie nicht zu stoppen und hat mich dabei komplett vergessen. Da hat es mich das erste Mal wirklich gestört. In ihren manischen Phasen hatte meine Mutter außerdem immer Fernweh, sie ging impulsartig auf Reisen. Sie hat mich auch viel mitgenommen. Das hatte immer etwas sehr Abenteuerliches, wie bei Pippi Langstrumpf.
An was für Momente denken Sie dabei?
An Autofahren mit aufgedrehter Musik. Lauthals singend den Schwung von einem Hügel zu nehmen, um den Nächsten hochzufliegen. Meine Mutter hat eine sehr ausgeprägte Fantasie, sie erzählte meiner Schwester und mir zum Beispiel, das sei die Sprungschanze in den Himmel. Sie hat auch ein echtes Schauspieltalent und konnte uns die tollsten Charlie-Chaplin-Szenen vorspielen. Wir durften sehr viel: Mit Rollschuhen in der Wohnung fahren, über Tische und Bänke klettern oder Spaghetti in der Badewanne essen. Aber in einer Manie konnte es ihr auch passieren, dass sie mich an einer Autobahnraststätte vergisst wieder einzupacken. Meine Schwester hat sie dann auf mein Fehlen aufmerksam gemacht. Dann ist sie natürlich abgebogen.
Das war nicht die einzige kritische Situation.
Vieles hatte mit dem Autofahren zu tun. In ihren manischen Phasen war meine Mutter zu aufgedreht zum Schlafen. Wir haben mehrmals an einer Raststätte oder einer Tankstelle im Auto übernachtet, wenn die Müdigkeit sie dann doch überfallen hatte. Einmal sind wir im Straßengraben gelandet, weil sie am Steuer eingenickt ist. In einer Manie war meine Mutter zudem übertrieben kontaktfreudig. Ihr fehlte das Gespür für Grenzen. Es kam oft vor, dass sie mit Männern anbandelte und sie mit zu uns nach Hause brachte - manchmal gabelte sie auch Obdachlose auf. Wenn dann früh morgens das Fernweh aufkam, fuhr sie einfach los und ließ uns mit ihren Bekanntschaften allein.
Die manischen Phasen waren also gefährlicher als die depressiven.
Ja - deswegen war ich trotz allem irgendwie erleichtert, wenn meine Mutter depressiv war. Ich habe zwar gemerkt, dass sie sehr traurig und antriebslos war. Aber ich wusste, dass sie da ist, wenn ich aus der Schule nach Hause komme. Sie hat während der Depressionen auch eher ihre Medikamente genommen - die sollen das Schlimmste verhindern.
Ihre Mutter war alleinerziehend, Ihr Vater lebte in einer anderen Stadt. Warum haben sich weder Ihre Verwandten noch der behandelnde Arzt um Hilfe bemüht? Das habe ich meine Tanten auch gefragt. Sie fanden, dass wir Kinder nicht mehr zu ihrem Zuständigkeitsbereich gehören. Sie fühlten sich für meine Mutter verantwortlich und hatten mit ihr alle Hände voll zu tun: Den Haushalt managen, Rechnungen bezahlen - Sachen, die sie ausgeheckt hat, wieder geradebiegen. Wir Kinder waren zudem sehr unauffällig. Ein typisches Verhalten, wie ich inzwischen weiß. Es gibt dieses Phänomen der Parentifizierung wie bei Kindern suchtkranker Eltern: Die Kinder schlüpfen unbewusst in die Elternrolle. Sie erscheinen übermäßig vernünftig, nehmen sich sehr zurück. Das wird oft missinterpretiert. Die Tanten, mein Vater, Lehrer und Ärzte haben uns für reif und vernünftig gehalten, nach dem Motto: "Die können selbst auf sich aufpassen." Das werfe ich ihnen im Rückblick vor. Auf der anderen Seite müsste selbst ein williger Helfer erst eine hohe Mauer des Schweigens überwinden, um ein Kind dazu zu bringen, über seine Sorgen zu Hause zu sprechen. Kinder sind extrem solidarisch mit ihren Eltern. Das verlangt schon sehr viel Ausdauer und Feingefühl.
Ein Feingefühl, das offenbar niemand in Ihrem Umfeld besaß.
Weil alle dachten, dass sich schon irgendjemand kümmern wird. Der Arzt denkt: "Die kriegen doch regelmäßig Besuch von den Tanten." Die Tanten denken: "Die kriegen doch regelmäßig Besuch vom Vater." Dabei betritt der Vater die Wohnung nicht. Oder die Lehrer sagen: "Die Nachbarn würden doch was mitkriegen." Und die Nachbarn sagen: "Die Lehrer müssten doch was merken." Jeder sieht nur die Spitze vom Eisberg - doch das ist keine Entschuldigung. In meiner Kindheit wiesen die Spitzen auf einen so großen Eisberg hin, da war es schlicht unterlassene Hilfeleistung, nichts zu tun. Meine Tanten holten meine Schwester und mich einmal aus einem Hotel ab, in dem unsere Mutter uns allein gelassen hatte. Wir hatten Fieber und Hunger, ernährten uns aus der Minibar. Da ist es nicht okay zu sagen, das Problem ist gelöst, wenn die Kinder am nächsten Tag wieder in die Schule gehen. Erwachsene sollten nachfragen. Wenn sie sich nicht zutrauen, selber Verantwortung zu übernehmen, gibt es schließlich genügend Anlaufstellen, an die sie sich wenden kann.
Hätten Sie sich als Kind gewünscht, von Ihrer Mutter getrennt zu werden?
Natürlich nicht. Natürlich im wahrsten Sinne des Wortes. Es liegt in der Natur des Kindes, dass es bei der Mama bleiben möchte - selbst wenn es geschlagen oder missbraucht wird. Hätte man mir aber gesagt, dass ich in schlimmen Phasen woanders unterkommen kann* (s. Abspann), sonst aber weiterhin bei meiner Mutter wohne, hätte ich das sicher angenommen. Meine Horrorvorstellung war, dass man ein für alle Mal geschnappt wird, ins Waisenhaus kommt und die Mutter bis an ihr Lebensende ins Irrenhaus gesteckt wird.
Dazu kam es nie. Probleme hatten Sie trotzdem.
Wir wurden sozial ausgegrenzt. Meine Mutter hat manchmal mit den Vätern anderer Kinder geflirtet. An einem Fasching hat ein Kind meine Schwester und mich als Nutten beschimpft, weil der Vater des Kindes ihm das eingeredet hat. Ich kannte das Wort bis dahin nicht mal. Meine Schwester hat auf solche Dinge mit einer Überanpassung reagiert, sie war immer besonders schick gestylt. Wir verließen morgens unsere verwahrloste Wohnung und auf dem Schulweg sah meine Schwester aus, als kämen wir aus einem der besseren Haushalte. Wir haben versucht, eine Fassade aufzubauen - was nicht gut geklappt hat.
Inwiefern?
Wenn die anderen Kinder ihren Eltern erzählt haben, wie es bei uns zu Hause aussieht, durften sie nicht mehr kommen. Jugendliche Freundinnen fanden es später eher cool, von meiner Mutter eine Zigarette angeboten zu bekommen - in einer Wohnung, die ein einziges Chaos ist - Anarchie pur. Ich habe mich dagegen eher nach Ordnung und Regeln gesehnt, denn die gab es für mich nicht. Ich musste mir selber überlegen, wann ich abends nach Hause komme.
Wie lange haben Sie bei Ihrer Mutter gewohnt?
Meine Schwester war schon mit 16 Jahren viel weg. Ab 17 hatte sie einen Freund, bei dem sie wohnen konnte, und kam fast nur zum Wäsche waschen vorbei. Als letztes Kind zu Hause fühlte ich mich dann noch mehr verantwortlich für meine Mutter. Ich hatte lange die Illusion, die Krankheit sei etwas, das sich heilen oder zumindest bessern ließe. Mit 18 Jahren habe ich mein Kunststudium in Karlsruhe begonnen. Das war ein Befreiungsschlag. Geographisch, aber auch innerlich. Kurz darauf kam es zum Bruch mit meiner Mutter. Nachdem sie mir am Telefon mal wieder lange ihr Leid geklagt und ihre Selbstmordgedanken geäußert hatte, schoss es aus mir heraus: "Dann bring dich halt um."
Daraufhin war ein Jahr lang Funkstille.
Ich dachte, das sei für immer. Aber als wir nach einem Jahr wieder sprachen, wollten wir beide unsere Beziehung ändern. Ich habe versucht, sie an ihre Mutterrolle zu erinnern und mich aus der Parentifizierung zu befreien. Einfach zu sagen: "Ich bin deine Tochter und erzähle dir jetzt meine Sorgen." Das hat ihr gut getan, denn sonst wurde sie dauernd als Kranke behandelt und nicht für voll genommen. Heute hilft ihr eine rechtliche Betreuerin, nicht nur in Gesundheitsfragen.
Als junge Frau haben Sie eine Magersucht entwickelt und sich selbst verletzt. Eine Reaktion auf Ihre Erfahrungen?
Durch Therapie habe ich verstanden, was eine Magersucht ist - dass das viel mit dem Bedürfnis zu tun hat, Grenzen zu setzen und Kontrolle zu haben. Das ist ja ein total berechtigtes Bedürfnis, das bloß nicht gut nur über das Körperliche befriedigt werden kann, weil es dann schnell selbstzerstörerisch wird. In Ausläufern begleitet mich dieses mangelnde Gefühl für gesunde Grenzen bis heute. Ich bin vielleicht zu leidensfähig: Ich merke es lange nicht, wenn jemand über meine Grenzen trampelt, weil ich es gewohnt bin.
Ging es Ihrer Schwester genauso oder hat sie das anders verarbeitet?
Sie hat einen anderen Weg eingeschlagen, hat sich früh nach außen orientiert, ist zu Freundinnen mit nach Hause gegangen. Durch ihre Neugier und ihr Selbstbewusstsein hat sie andere Familienmodelle kennengelernt. Der Kontrast zu ihrem eigenen Zuhause hat zu Konflikten geführt. Sie hat ihre Rechte als Kind gekannt und eingefordert.
Haben Sie beide sich gut verstanden?
Ja, unsere Kindheit hat uns sehr zusammengeschweißt. Wir konnten es uns allerdings auch nicht leisten, sehr zu streiten. Wir hatten nur einander. Sie rutschte auch in eine Mutterrolle für mich.
Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Erlebnisse in einem Buch aufzuschreiben und aufzuzeichnen? Das Bedürfnis dazu hatte ich schon lange, denn diese Stories sprengen einfach jedes Gespräch. Durch meinen eigenen Sohn wurde dieses Bedürfnis stärker. Wenn er groß ist, soll er wissen, warum ich so ticke und warum seine Oma so ist. Auch meinem Mann wollte ich es lieber in Form dieses Buches erzählen. Ich habe keinen Ratgeber geschrieben, aber offenbar erfüllt das Buch auch diese Funktion. Bei meinen Lesungen und der anschließenden Diskussion verlasse ich meine Komfortzone, das wird sehr persönlich. Aber wenn die Menschen mit geschärften Antennen für solche Kinder nach Hause gehen und ich anderen Betroffenen Mut machen kann, hat sich alles gelohnt.
*Patenschaftsprojekte können eine sinnvolle Zwischenlösung in Krisenzeiten sein: Ein Pate oder eine Patin lebt im gleichen Ort, hält auch in guten Zeiten Kontakt zu dem Kind und begleitet es mit dem Einverständnis des kranken Elternteils auch in schlechten Zeiten. Informationen darüber und Angebote dazu gibt es zum Beispiel auf den Seiten von Amsoc, Netz und Boden oder Help! for Families.
Sinus
"Ich bin Teenager, aber ich mach meiner Familie keine Probleme. Ich hab andere Sorgen. Die Angst, dass meine Mutter sich mehr oder weniger absichtlich aus dem Leben katapultieren könnte, ist bei mir Alltag. Ihre ganz eigenen Gezeiten, die sie regelmäßig mal himmelhoch, mal kratertief wirbeln, bringen sie todsicher jedes Mal an einen teuflischen Wendepunkt. Bevor nämlich die Metamorphose von manisch zu depressiv ganz vollbracht ist, tun sich unterschiedliche Facetten meiner beiden Mütter neu zusammen und ergeben eine implosive Mischung.
Der Doktor macht einen Strich, das ist die Null-Linie, zack. Dann malt er eine Sinuskurve, mit rotem Kuli für "Manie" oberhalb der Null-Linie und blauem Kuli für "Depression" unterhalb der Null-Linie. "Die Medikamente", sagt er, "sollen folgendes bewirken." Er legt den Kopf schief wie ein Kind und malt horizontale Striche in Grün mit denen er die Hügel und die Täler der Sinuskurve abhackt. "Schwierig wird es hier", er malt Kringel um die Stellen, wo die Sinuskurve die Null-Linie ungerührt von oben nach unten überquert. "Da hat der Patient noch den euphorischen Antrieb der Manie, aber schon die Stimmung der Depression. Oder hier:" (Kringel an der nächsten Kreuzung weiter rechts) "noch die Gedanken der Depression, schon die Kraft der Manie. Da ist statistisch gesehen die Suizidwahrscheinlichkeit am höchsten. Man sollte denken, hier:" (Kringel am Tiefpunkt der Talkurve) "da ist der Patient ja am depressivsten, aber nein, am höchsten ist die Suizidwahrscheinlichkeit hier: noch die..." – "JA, JA, JA! Hab's ja schon verstanden! – Hatte es vorher schon verstanden, auch ohne Schaubild."
Meine Welt ist in Ordnung, wenn ich weiß: Mama ist sicher in ihrer Depression gelandet. Endlich mal Ruhe die nächsten paar Wochen. Der Tsunami, den sie am Anfang ihrer letzten Manie ausgelöst hat, ist über uns hinweg getobt. Die Termine der Konzerte, die sie angezettelt hat, sind sang- und klanglos vergangen. Die Liebhaber, die gekommen waren, um sich endlich zu holen, was ihnen versprochen worden war, sind unverrichteter Dinge von der verschlossenen Wohnungstür abgezogen. Die unbezahlten Rechnungen haben die Tanten schwesterlich geteilt und barmherzig beglichen."
Fasching
"Die Franka toupiert erst ihre Haare und dann meine. Augen zu, Luft anhalten, Kopf runter hängen, voll in die Haarlack-Wolke. Super: wir haben Haare wie braune Zuckerwatte. Jetzt in die hundert Spitzen-Unterröcke steigen, die Mama mal antiquarisch gekauft hat. Alle Gürtel, die wir finden, kreuz und quer um die Hüften. Mindestens fünfzig Männer-Unterhemden auf Bauchnabelhöhe abschneiden und übereinander anziehen – schräg, mal so, mal so, Hauptsache, die Schultern gucken raus. Bei Franka sieht der Lippenstift super aus. Ich seh aus, als hätte ich Spaghetti mit Tomatensoße gegessen. Egal.
Wir tanzen wie Madonna. Zwei Madonnas im Zimmer, zwei im Spiegel. Okay, jetzt können wir los. Ich schlüpf mit meinen nackten Armen in die kühle Daunenjacke, das fühlt sich komisch an und neu. In der Garage haben wir die Besen geparkt. Wir reiten auf unseren Hexenbesen durch das dunkle Dorf, zum Partykeller vom CVJM. Die ganzen katholischen Kinder stehen rum, haben Salzstangen und Coladosen in den Händen und reden, immer zu dritt. Thriller kommt ganz laut, aber alle sind so: ich hab Wichtigeres zu tun als Tanzen. Die Franka kennt jemanden, aber der kommt erst später. Ich kenn auch jemanden, vom Sehen, den da in der Ecke, den von der Bushaltestelle. "Hallo. Na?" Vielleicht erkennt der mich nicht. "Wir sind Hexen!" – "Ihr seid Nutten." – "Aber..." Ich halt ihm meinen Besen hin. "Weil Eure Mutter eine Nutte ist – hat mein Vater gesagt!" – Ich erzähl alles der Franka: "...hat sein Vater gesagt!". Sie legt den Arm um mich, schiebt mich vor sich her, zum Eingang, wieder raus aus dem CVJM. Auf dem Rückweg reiten wir nicht, wir gehen zu Fuß und ziehen die Besen hinter uns her. Zuhause machen wir den Fernseher an. Kölle allaf – das können wir auch. Wir marschieren mit durchgedrückten Knien, winken wie Funkenmariechen-Roboter und zeigen alle Zähne – fest zusammenbeißen! Wir knicken vor Kichern nach vorne, marschieren weiter, knicken wieder. Tä-täää, Tä-täää, Tä-täää!"